Lehrer kämpft gegen Zahn der Zeit

Nach dem überraschend überzeugenden Erfolg gegen Jungspund Kiefer kann Boris Becker sich ganz entspannt aus seinem Wohnzimmer verabschieden    ■ Aus Wimbledon Matti Lieske

Ein wenig wirkte Nicolas Kiefer nach der drastischen Niederlage gegen Boris Becker wie ein ungezogener Schüler, der hundertmal schreiben muß: Ich soll meinen Lehrer nicht ärgern. Nahezu jede Frage beantwortete er zum Leidwesen der Presse, die gern etwas Substantielleres gehört hätte, mit der Mitteilung, daß Becker eben sehr erfahren sei und sechs Grand-Slam-Turniere, davon drei in Wimbledon, gewonnen habe. Ansonsten, schwärmte der 21jährige, sei es „ein Genuß“ gewesen, erstmals auf dem Centre Court in Wimbledon zu spielen, und er hoffe, dies noch öfter erleben zu dürfen. „So wie er die Niederlage schluckt“, knurrte der allgegenwärtige Tennisexperte Günther Bosch verdrossen, „kann er nicht weiterkommen.“

Entschädigt für den spröden Auftritt von Nicolas Kiefer wurde das Auditorium durch Boris Becker, der, ganz Grandseigneur, ein munteres Plauderstündchen abhielt. Schon nach zwei Runden hat er alles erreicht, was er sich bei diesem Wimbledon-Turnier erträumte. Vollkommen entspannt kann er in das heutige Match gegen den australischen Wunderknaben Lleyton Hewitt (18) gehen, von Temperament und Chuzpe her eine Art Spiegelbild des draufgängerischen Leimeners vor 14 Jahren. Anstatt mit einem unbotmäßigen Epigonen bekommt es Becker diesmal mit einem wahren Fan zu tun. Hewitt bescheinigt seinem Kontrahenten „eine Menge Klasse auch außerhalb des Spielfeldes“.

Für Boris Becker hätte das risikoreiche Abenteuer Wimbledon 1999 kaum besser laufen können. In Runde eins gegen den Briten Miles MacLagan den alten Mythos vom Kämpfer, der nahezu verlorene Partien jederzeit herumreißen kann, wieder ausgebuddelt, in Runde zwei einem hinter den Ohren noch nicht ganz trockenen Landsmann das Fell über dieselben gezogen. Und das, obwohl er ja im Grunde längst abgetreten sei: „Ich bin doch nur noch ein Schatten meiner selbst.“

Ein sehr munterer Schatten, muß man sagen, und einer, der verdammt gutes Tennis spielen kann. Der glatte 6:4, 6:2, 6:4-Sieg des 31jährigen gegen einen auf Rasen allgemein sehr hoch eingeschätzten Nicolas Kiefer kann mit Fug und Recht als die bis dahin zweitgrößte Sensation des Turniers nach dem Ausscheiden von Martina Hingis gegen Jelena Dokic eingestuft werden. Beckers erfolgreicher Kampf gegen den Zahn der Zeit sorgte für Verblüffung nicht nur in Spielerkreisen, sondern auch bei den Medienvertretern, die ihn nach seiner qualvollen Darbietung in Runde eins bereits abgeschrieben hatten, und nicht zuletzt bei ihm selbst. „Es war sehr erfreulich, zu perfektem Rasentennis fähig zu sein“, sagte Becker genüßlich und konstatierte „eine Steigerung um hundert Prozent“. Wie weggeblasen die Schwerfälligkeit und Unsicherheit, die er gegen MacLagan an den Tag gelegt hatte, statt dessen spielte er resolutes, systematisches Angriffstennis der allerfeinsten Sorte. Er schlug glänzend auf, returnierte exzellent und dominierte fast alle Ballwechsel. „Ich dachte nicht, daß ich noch einmal so spielen kann“, freute er sich, aber der Centre Court von Wimbledon bringe eben stets sein bestes Tennis zum Vorschein. Als sein Wohnzimmer mochte er den Platz jedoch nicht mehr bezeichnen. „Früher hat er mir mal gehört, aber Pete Sampras hat sich die Schlüssel geschnappt.“

Dem könnte er diesmal erst im Finale begegnen, ein Gedanke, der im Moment so fern liegt wie, sagen wir, Harmonie im deutschen Tennis-Team. Was er denn als Davis-Cup-Manager zu der doch eher kläglichen Leistung seines Spielers Kiefer sage, wurde Becker in Wimbledon gefragt. Zum letzen Mal konnte er sich darauf hinausreden, daß er momentan in seiner Inkarnation als Spieler hier sei und nicht als Teamchef. Bald ist es jedoch vorbei mit der leidigen Doppelrolle und auch mit der Chance, aufmüpfige Tennisprofis durch knallige Aufschläge zur Raison zu bringen. Die ersten vorsichtigen Schritte auf dem fremden Terrain der Diplomatie tat Boris Becker gleich nach dem Match am Donnerstag. „Er ist ein sehr talentierter Spieler, der in Wimbledon noch viel erreichen wird“, lobte er Kiefer und erlaubte sich sogar einen kleinen Wink mit der Friedenspfeife: „In ein paar Wochen trinken wir vielleicht ein Bier zusammen, ich bin zurückgetreten, und er ist in den Top ten. Wo ist das Problem?“ Vielleicht genau da.