Heute wird wenig an Armut gedacht

■ betr.: „Schwieriger dritter Weg“ von Claus Leggewie und Adalbert Evers, taz vom 22.6.99

Sicherlich stimmt es, daß Schröder und Blair nicht den Sozialstaat abschaffen wollen. Richtig ist auch der Gedanke an Veränderungen. Falsch ist hingegen die Vorstellung, hier sei etwas Neues entstanden. Die Versöhnung der unterschiedlichen Positionen zu Wohlstand, Ausbildung, Wirtschaft und Sozialem ist seit dem Godesberger Programm der SPD immer wieder versucht worden.

Das Problem beginnt aber mit der Analyse dessen, was Helmut Kohl, Ronald Reagan und Marget Thatcher ihren Erben hinterließen. Da sind zunächst große soziale Probleme, die alle statistisch nachweisbar sind, und da sind viele unbeantwortete Fragen nach ökologischem Umbau der Gesellschaft, nach Krieg und Frieden, nach Ausbildung, Wissenschaft und Technik.

Das eigentliche Erbe der neoliberalen Politik ist die soziale Katastrophe. An diesem Punkt wird auch deutlich, warum Schröder, Blair und auch Clinton ein Problem für die europäische Linke darstellen: Sie finden sich mit Armut und sozialer Ausgrenzung ab. Unter dem Stichwort „Nachbessern“ arbeitet Schröder ohnehin, dies tut er auch im sozialen Bereich: Er entlastet nochmals Besserverdienende, zu einem kleineren Teil untere Schichten, er erhält den Sozialstaat, aber auf niedrigem Niveau. Diese Handlungen haben einen Alibicharakter, denn sie symbolisieren nur noch das, was sie eigentlich leisten sollten. Heute wird wenig an Armut gedacht, dafür gibt es den Sozialstaat. Wie es den Leuten tatsächlich geht und was aus ihnen in Zukunft wird, ist kein Thema mehr.

Insofern haben Leggewie/Evers zwar die Richtung angemahnt, aber nicht deutlich gemacht, wie sie sich gegenüber dem neoliberalen Erbe (Armut) verhalten wollen. Ihre Statements zu Bodo Hombachs Buch sind in linken Kreisen nichts Neues. Die These, daß es bei der sozialen Demokratie um Mittelmäßigkeit gegangen sei, finde ich sehr streitbar, zumal eigentlich Konsens darüber besteht, es sei um Chancengleichheit gegangen. Eigentlich war der Gedanke der sozialen Demokratie auch der, daß es ein Band zwischen Starken und Schwachen geben muß. Schade, daß die Neue Mitte bei Steuern, Bildung und Armut dieses Band nicht mehr flicken will, es wäre nötig. André Berthy

Der vielleicht dümmste und gefährlichste Absatz in dem ganzen Blair/Schröder-Papier: „Eine moderne und effiziente öffentliche Infrastruktur einschließlich einer starken Wissenschaftsbasis ist ein wesentliches Merkmal einer dynamischen arbeitsplätzeschaffenden Wirtschaft. Es ist wichtig sicherzustellen, daß sich die öffentlichen Ausgaben in ihrer Zusammensetzung auf diejenigen Tätigkeiten konzentrieren, die dem Wachstum und der Förderung des notwendigen Strukturwandels am besten dienen.“

Wissenschaft darf nicht darauf beschränkt werden, nach Zielvorgabe nur irgendeinem als irgendwie notwendig vorgegebenen Strukturwandel und Wachstum gefällig zuzuarbeiten. Es kann nicht nur darum gehen, daß wir dem Strukturwandel wie Lemminge nachhetzen und Wachstum nach Art dieser Nager bis zum Sprung über die Klippe vorantreiben.

Wissenschaft muß die Menschen befähigen, die Notwendigkeit von Strukturwandel und Wachstum selbst mit Hilfe einer der individuellen Urteilskraft stärkenden Wissenschaftsbasis überprüfen und die Richtung des Wandels mitbestimmen zu können. Es geht um die wissensbasierte und demokratische (also nicht nur marktgesteuerte) Gestaltung der Strukturen, in und mit denen wir leben. [...] Götz Kluge, München