Bumm Bumm – Der Imperator schlägt zurück

Spaß beiseite: Wimbledon-Achtelfinalist Boris Becker hat die Tennisrentner-Attitüde abgelegt. Er ist jetzt finster entschlossen, aufs Ganze zu gehen. Aber kann er den aufschlagstarken Weltranglistenzweiten Patrick Rafter heute wirklich schlagen?  ■   Aus Wimbledon Matti Lieske

Es war eindeutig ein veränderter Boris Becker, der nach seinem 6:1, 6:4, 7:6-Erfolg gegen den Australier Lleyton Hewitt seine Gedanken auf die zweite Turnierwoche in Wimbledon richtete. Eine Zeit, in der er nach allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit eigentlich längst zu Hause hätte sein müssen, so wie alle anderen deutschen Starterinnen und Starter, bis auf Steffi Graf. Statt dessen spielt der 31jährige heute im Achtelfinale gegen Patrick Rafter.

Das noch nach dem Sieg gegen Nicolas Kiefer zur Schau getragene glückliche Strahlen darüber, der Tennisbiologie ein Schnippchen geschlagen und alle Zweifler und Spötter blamiert zu haben, ist einem Ausdruck finsterer Entschlossenheit gewichen. Der fröhliche Tennisrentner, der sich noch mal ein wenig Spaß gönnt, hat dem kämpferischen Jäger Platz gemacht, der Witterung von Großwild aufgenommen hat.

Boris Becker hat gemerkt, daß hier in Wimbledon mehr drin ist als bloß eine nette Abschiedsparty. Die Ovationen nach seinem Sieg gegen den 18jährigen Australier nahm Becker bereits in der Pose eines Imperators entgegen, der sich genommen hat, was ihm zusteht. „Er läuft herum, als ob ihm der Platz gehört“, hatte Hewitt fast ehrfürchtig konstatiert, „er vermittelt einem das Gefühl, als ob man es nicht wert ist, mit ihm auf demselben Boden zu stehen.“

Nicht bös gemeint, denn hinterher verstreute Becker großzügig Komplimente an seinen unerfahrenen Kontrahenten. Er habe „gegen die Zukunft des Tennis“ gespielt, sagte er, und Hewitt sei durchaus fähig, künftig ein paar Grand-Slam-Turniere zu gewinnen.

Am Samstag wirkte die personifizierte Zukunft des Tennis jedoch eher wie eine kleine Maus, die unversehens dem Hauskater begegnet ist und verzweifelt einen Ausweg sucht. Erst im dritten Satz befreite sich Hewitt langsam von dem Bann, den ihm die Präsenz eines seiner früheren Idole scheinbar auferlegt hatte. Da erinnerte er sich, daß er nicht hergekommen war, um ein Autogramm zu erbitten. Hätte er einen seiner beiden Satzbälle verwertet, wäre ihm vielleicht sogar noch der Sieg gelungen. Becker zeigte in dieser Phase angesichts der eindeutig majestätsbeleidigenden Returns und Passierschläge, die auf ihn niederprasselten, plötzlich eine Verwundbarkeit, die zuvor undenkbar schien. „So was kann schnell gehen“, weiß Becker aus leidvoller Erfahrung, besitzt aber immer noch die Fähigkeit, im rechten Moment ein oder zwei Aufschlag-Asse aus dem Ärmel zu zaubern. Zumindest auf dem Centre Court von Wimbledon.

Becker selbst wird zwar nicht müde zu erklären, daß ihm der Centre Court in Wimbledon eben nicht mehr gehört, sondern Pete Sampras längst mit den Schlüsseln davongerannt ist. Dennoch setzt die Stätte seines großen Durchbruchs vor 14 Jahren offenbar Kräfte in ihm frei, von denen nicht einmal er etwas gewußt hat. „Ich habe keine Erklärung“, gestand er nach seiner Rasentennis-Demonstration der höchsten Güteklasse.

Gegen Patrick Rafter dürfte der Einschüchterungszauber trotzdem kaum funktionieren. Der 26jährige Australier ist kein grüner Junge wie Hewitt oder Kiefer, sondern ein erfahrenerAngriffsspieler, der bereits zweimal die US Open gewonnen hat. Würde er nicht, ähnlich wie sein Landsmann Mark Philippoussis, unter beträchtlichem Stimmungs- und Motivationsschwankungen leiden, hätte Rafter längst die Spitze der Weltrangliste erklommen und nicht immer erst in der zweiten Jahreshälfte angefangen, sein bestes Tennis zu spielen.

Auch in diesem Jahr blieb er nicht von der gewohnten Krise verschont, doch ein Brief mit Zuspruch von Davis-Cup-Kapitän und Tennislegende John Newcombe möbelte ihn so auf, daß er früher als gewohnt zu seiner Topform fand.

Vor Wimbledon war er die Nummer zwei der Weltrangliste und auf dem Sprung, Sampras zu überholen. Was ihm lieber sei, wurde er gefragt, Wimbledon zu gewinnen oder die Nummer eins zu werden. Antwort: „Wimbledon gewinnen – aber dann bin ich die Nummer eins.“

Becker glaubt, daß es nur „fünf oder sechs Spieler gibt, die wissen, wie man auf Gras spielt.“ Dazu zählt selbstverständlich er, dann wären da noch Sampras, Agassi, Ivanisevic, vielleicht Henman und Rusedski. Für Rafter findet er keinen Platz. Es könnte sein, daß Bekker seine Liste nach dem Achtelfinale ein wenig erweitern muß. „Rafter ist ein typischer Serve-and-Volley-Spieler, der, überraschend für mich, in Wimbledon noch nie gut abgeschnitten hat“, beschreibt Becker seinen Gegner. Nach drei Partien gegen Grundlinienspieler muß er sich auf ein völlig anderes Match einstellen. Es spielen zwei Aufschlag-Berserker, die jede Gelegenheit zum Angriff nutzen und „am Netz versuchen herauszufinden, wie wir drauf sind“ (Becker). Bisher hat der kraftstrotzende Rafter bei seinen Siegen gegen Caratti, Björkman und Enqvist wenig Schwächen gezeigt, und es wird einer weiteren wundersamen Steigerung Beckers bedürfen, sich seinen Wunsch, „noch lange im Turnier zu bleiben“, erfüllen zu können.

Nicht einmal der ungeteilten Publikumsgunst kann sich der Majordomus von Wimbledon diesmal sicher sein, denn der ausgewiesene „good guy“ Patrick Rafter ist, das hat sogar schon Lleyton Hewitt bemerkt, „immer der Liebling, egal wo“. Ob denn Rafter mehr wie Edberg oder mehr wie Pat Cash wirke, wurde Boris Becker gefragt. Schmeichelhafte Antwort: „Er wirkt wie Rafter.“