Der Matlock der Nazi-Sklaven

Zwangsarbeiter – entschädigt sind sie auch 54 Jahre nach Kriegsende nicht. Die deutschen Firmen feilschen um Summen, Anwalt Peter-Jochen Kruse will Gerechtigkeit  ■ Von Jens Rübsam

In Juristenkreisen galt Peter-Jochen Kruse, 70, als Wald-und-Wiesen-Anwalt, der sich aller Fälle annahm, die im hessischen Maintal einer Klärung bedurften: Ehescheidungen, sexueller Mißbrauch, Verkehrsdelikte. Einmal bekam er die Chance, einen Präsidenten zu verteidigen, Leonid Krawtschuk, Ex-Staatschef der Ukraine. Der war in Verdacht geraten, ein Mafioso zu sein. Kruse rettete ihm die Ehre – und genießt seitdem zwischen Kiew und Odessa und weit darüber hinaus den Ruf eines „otschen choroschiy Advokat“, eines sehr guter Anwalts, sowie das Vertrauen so vieler Mandanten, wie Bonn und Dresden Einwohner haben, 750.000.

In Nürnberg gegen Diehl. In Hannover gegen Bahlsen. In München gegen Siemens. Wie ein Getriebener zieht Peter-Jochen Kruse durch jene Städte, von denen seine 500.000 Mandanten aus der Ukraine und seine 250.000 Mandanten aus Weißrußland lediglich noch wissen, daß sie in Deutschland liegen und daß sie hier, vor mehr als einem halben Jahrhundert, wie Sklaven durch Fabrikhallen gepeitscht wurden. Und jedesmal, wenn Anwalt Kruse nun vor Deutschlands Richtern steht, bittet er um einen Moment Aufmerksamkeit und verliest in tragendem Tonfall eine Erklärung, der er den Namen „Nürnberger Erklärung“ gegeben hat. „Als Deutscher“, beginnt Kruse stets, „empfinde ich Scham ob der Kriegsverbrechen, die im Namen meines Volkes an den Ost-Arbeitern begangen wurden.“ Stets endet er mit den Worten: „Wenn ich mich zum Sprecher dieser NS-Zwangsarbeiter mache, die die stimmlosen, vergessenen Opfer des Zweiten Weltkrieges sind, so erfolgt dies auch in der Hoffnung, einen Weg zu finden, um dieses beschämende Kapitel unserer deutschen Geschichte in fairer und honoriger Weise zum Abschluß zu bringen.“ Dann nimmt er Platz am Tisch des Anklägers und fährt sich mit einem Taschentuch über die Stirn.

Arbeitsgericht München, Sitzungssaal 1. Richterin Lunz-Schmieder ist eine freundliche Frau, die – „grüß Gott“ – um Güte bemüht ist. Ein Unternehmer willigt ein, den Gekündigten wieder einzustellen. Ein Vertreter der Siemens AG erklärt sich einverstanden, einer Dame, 29 Jahre im Werk beschäftigt, 165.000 Mark Abfindung zu überweisen. Frau Lunz-Schmieder ist zufrieden mit dem Verlauf des Vormittages: stets eine gütliche Einigung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.

Dann tritt Rechtsanwalt Kruse auf. Es geht um 1.200 Mark Entschädigung pro geleisteten Monat Zwangsarbeit und um ein einmaliges Schmerzensgeld in Höhe von 6.000 Mark – um Beträge von rund 36.000 Mark also, die er von der Siemens AG für jeden seiner Mandanten einfordert, nach unten verhandelbar bei schneller Zahlung.

Vor dem Sitzungssaal hängt eine Liste aus, Kläger und Beklagte. Die Namen, die hinter 11.40 Uhr notiert sind, sind keine von bayerischen Staatsbürgern, die um ihr Recht kämpfen. Borysenko steht da und Krywyzky und Powalinskyj, Namen von 17 UkrainerInnen, die einst für Hitlers Wahn zwangsschuften mußten, unter widrigsten Bedingungen und für ein Zehntel dessen, was deutsche Siemens-Arbeiter an Lohn bekamen. Anwalt Kruse – „Sprachrohr oder Fürsprecher, wie Sie wollen“ – will „Gerechtigkeit, nichts weiter als Gerechtigkeit“.

Der Mann sieht aus wie der amerikanische Fernsehanwalt Matlock: graues Haar, maßgeschneiderter Anzug, Schuhe zum Reinschlüpfen. Er ist so launig gebräunt, als habe er gerade vier Wochen in seinem Haus in der Bretagne verbracht und nicht tagelang zu Gericht gesessen. Er hat feines Parfum aufliegen und zieht einen Koffer hinter sich her, zentnerschwer, gefüllt mit Akten, für die Deutschland sich schämen sollte.

„Was mich traurig macht“, beginnt nun Rechtsanwalt Kruse der Arbeitsrichterin Lunz-Schmieder vorzutragen, „ist, daß bisher von keiner deutschen Firma eingeräumt wurde, daß es sich bei der Zwangsarbeit um ein Kriegsverbrechen handelte.“ „Ich glaube“, unterbricht Lunz-Schmieder, „das würde hier zu weit führen.“

Die Verhandlung dauert nicht länger als das Aufbacken einer Pizza – und ungeklärt bleibt, ob sich die 36. Kammer des Münchner Arbeitsgerichtes für die Schadenersatzklage der 17 Ukrainer zuständig fühlt. „Mir sterben meine Mandaten weg“, ruft Kruse noch in den Gerichtssaal hinein, seine Worte bleiben ungehört, es ist Mittagszeit. Von den insgesamt zirka siebeneinhalb Millionen Zwangsarbeitern leben noch gut zweieinhalb Millionen, die meisten weit über 80 Jahre.

Wie Peter-Jochen Kruse kämpft ein Dutzend deutscher Anwälte für die Entschädigung der Zwangsarbeiter. Anwälte, deren Namen allenfalls aus lokalen Gelben Seiten bekannt sind: Remin aus Köln; Odyniec aus Hamm; Pahde aus Herford. Anwälte, deren Privatnummern so begehrt sind wie zu DDR-Zeiten Ferienplätze an der Ostsee: Wissgott aus Stadthagen, Verteidiger von Ex-DDR-Staatschef Egon Krenz; Witti aus München, Kompagnon des New Yorker Staranwalts Edward Fargan. Anwälte, die allesamt sagen, „der Gerechtigkeit“ zum Rechte verhelfen zu wollen, ausschließlich. „Gierige Anwälte“ werden sie von einigen genannt. Gierig?

Es hat angefangen zu regnen. Peter-Jochen Kruse sitzt in der „Franziskaner-Fuchsenstube“ inmitten von München. Er bestellt Leberknödelsuppe und Weißwürste. Immer wieder spricht er von „Gerechtigkeit“. Gerechtigkeit für die Zwangsarbeiter, die „wie Wildpferde in ihrer Heimat eingefangen“ und „ins Reich zum Arbeiten für den Endsieg transportiert“ wurden. Gerechtigkeit. Können Erklärungen so einfach sein?

Man hatte sich Muster zurechtgelegt: Diese Anwälte führen diese Prozesse, um abzusahnen. Oder, wenigstens, aus Prestigegründen. Oder, vielleicht, um ein Stück Biographie aufzuarbeiten. Waren die Eltern Nationalsozialisten? Die Großeltern? Hat er, Peter-Jochen Kruse, selbst etwas gutzumachen? Mit 70 Jahren ist er der älteste im Kreise der Entschädigungsanwälte. Er war im Jugendalter, als Deutschland Krieg führte. Irgend etwas muß ihn treiben.

Peter-Jochen Kruse lächelt. Er ist gewieft genug, um zu wissen, was Journalisten denken. Ohne gefragt zu werden, sagt er: „Meine Eltern hatten mit den Nazis nichts am Hut.“ Der Vater war ein verdienter Tierarzt in Wismar, ein typischer Mecklenburger, ein Querkopp. Er war im 1. Weltkrieg in der Ukraine und hielt nach Kriegsende noch freundschaftliche Kontakte dorthin. Die Mutter war eine Tochter aus höherem Hause, eine „fantastische Frau“. Er selbst war, „natürlich“, in der Hitlerjugend, in einer Marineeinheit. Das war, sagt er, so selbstverständlich, wie DDR-Kinder in der FDJ waren. In der HJ lernte er Kutter fahren, bestand die Segelbootprüfung. Die Zeit, „eine tolle Sache“, habe ihn „politisch aber kaltgelassen“.

Kruse war ein Lütter, ein Kleiner aus Mecklenburg wie viele. Erst später wurde auch er zum Querkopp: fragte seine Lehrer, wie es möglich sei, sich innerhalb eines Jahres vom Nationalsozialisten zum Kommunisten zu wenden; bezeichnete die DDR als Verbrecherstaat; rügte die SED, weil sie Wahlen fälschte; trat nicht in die FDJ ein (hatte er das nicht gerade als selbstverständlich bezeichnet?); flog von der Uni; wurde Mitglied der FDP und ging in den Westen. Er studierte Jura in Hamburg und in München; stellte sich bei Siemens vor; fand in Hessen eine Kanzlei; wurde der jüngste Notar des Bundeslandes; ließ sich in den Stadtrat wählen und in den Landtag und in den Kirchenvorstand; kämpfte gegen die Gebietsreform und nach der Wende um die Rückübertragung seines Elternhauses. Er verlor. Was ist schon gerecht?

Die Suche nach Motiven für ihr Tun führt bei Deutschlands Entschädigungsanwälten allzuoft zu den gleichen Ergebnissen: „Gerechtigkeit schaffen“ und „Einer muß es tun“ – alle Überzeugungstäter also? Hin und wieder finden sich biographische Erklärungen. Bei dem Kölner Anwalt Andreas Remin, 45, etwa. Er kommt aus Polen, dolmetschte im Majdanek-Prozeß, vertritt nun 500.000 polnische Zwangsarbeiter und sieht dies als seinen Teil „geschichtlicher Aufarbeitung“. Bei Darius Odyniec etwa, dem Anwalt aus Hamm. Er hat das Mandat für 1.000 polnische Zwangsarbeiter, die heute in Amerika und Kanada leben. Auch er stammt aus Polen und sieht „das Leid seiner Landsleute“. Er hat einen Mandanten zu vertreten, der als 16jähriger über Jahre hinweg in eine Salzgrube einfahren mußte und erhebliche gesundheitliche Schäden davontrug; Streitwert: zwei Millionen Mark. Ob allerdings das Leid einen Preis haben kann, das fragt sich der 38jährige Anwalt.

Der Sprecher des „Bundesverbandes Information und Beratung für NS-Verfolgte“, Lothar Evers, wird richtig wütend, wenn er den Vorwurf hört, die Anwälte seien gierig. „Ablenkungsmanöver“ nennt er dieses Argument. Zu fragen sei vielmehr: Wie attraktiv ist es, Anwalt im Dienste eines der angeklagten Großkonzerne zu sein? Siemens, BMW, Bahlsen würden Unmengen für Anwälte und für PR-Maßnahmen ausgeben, um zu verhindern, an den geschichtlichen Pranger gestellt zu werden. „Das sind entweder Firmenanwälte, die ihren geregelten Lohn halten“, so Evers, „oder Anwälte, die keinen Finger krumm machen ohne Vorschuß.“

Anders Kruse, Remin, Odyniec, Wissgott ... Peter-Jochen Kruse hat ausgerechnet: Zwischen 150.000 und 200.000 Mark hat er schon in diese Fälle investiert. „Nur wer eine etablierte und gutgehende Kanzlei hat, kann sich das leisten.“ Anders als in Amerika, wo die Anwälte wie irre durch das Land reisen, Mandate sammeln und horrende Forderungen stellen, an denen sie gut verdienen, weil Vorabvereinbarungen von Erfolgshonoraren zulässig sind, müssen deutsche Anwälte erst einmal draufzahlen: Kosten für Schriftverkehr und Telefonate, für Reisen, Recherche und das Schreiben von Anklageschriften, wenn der Fall vors Landgericht kommt. Genau das aber will Kruse nicht und klagt vor Arbeitsgerichten. Hier wird schneller entschieden, hier muß kein Gebührenvorschuß geleistet werden. Die Monatsrenten seiner Mandanten aus den osteuropäischen Ländern sind oftmals nicht höher als Rechnungen für Zeitungsabos. „Natürlich aber“, gibt Rechtsanwalt Odyniec zu, „hoffen die Anwälte darauf, daß am Ende abgerechnet wird.“ Sollte der Streitwert auch niedrig sein, bei der Anzahl der Mandanten könnten stattliche Summen für sie herausspringen.

Inzwischen hat es in München aufgehört zu regnen, und Peter-Jochen Kruse ist auf dem Weg zum Zug. Das Handy klingelt, Kanzlei Witti. Die Kanzlei jenes Anwalts, dem zugute gehalten wird, die Entschädigungsdebatte in Deutschland vorangetrieben zu haben, dem aber vorgeworfen wird, im Schlepptau seines amerikanischen Ziehvaters Fargan mit überzogenen Summen zu hantieren (70.000 Dollar Entschädigung pro Mandant). Kruse spricht also ins Handy: „Heute ist es nicht so toll gelaufen.“ Ende Mai hatte er eine bessere Nachricht zu verkünden. Die Vierte Kammer des Nürnberger Arbeitsgerichts hatte die Schadenersatzklage einer 75jährigen Ukrainerin, die im Rüstungskonzern Diehl zwangsbeschäftigt war, angenommen. Es war das erste Mal, daß sich ein Arbeitsgericht für einen solchen Fall zuständig fühlte. Inzwischen wurde auch von der Zweiten Kammer des Nürnberger Arbeitsgerichts vier weiteren Klagen stattgegeben.

Wie Rechtsanwalt Kruse bewegen sich alle Anwälte auf einem verminten Feld des Gewissens. Das fängt an bei den Fragen: Wen klage ich an? Wenn kann ich überhaupt noch anklagen? Kruse klagt nicht gegen Landwirte, die Zwangsarbeiter beschäftigt hatten. „Auf den Bauernhöfen erging es den Zwangsarbeitern oftmals besser als in der Industrie. Da haben sie wenigstens etwas zu essen bekommen.“ Zudem habe seine Erfahrung gezeigt: „Manchmal reicht schon ein Anruf bei den Familien. Die sagen dann: 'Ach, die Olga, die lebt noch?' Und laden sie ein oder schicken Pakete.“ Der Herforder Rechtsanwalt Pahde sagt: „Hier in Ostwestfalen-Lippe müßte ich meist gegen Nebenerwerbslandwirte vorgehen, die man mit solch einer Klage kaputtmachen würde. Dabei haben die Banken sowieso schon ihre Hände auf den Höfen.“ Freisprechen allerdings will Pahde die Landwirte nicht: „Für Zwangsarbeiterinnen war die Arbeit auf einem Bauernhof oft mit sexueller Belästigung verbunden.“ Rechtsanwalt Odyniec gibt zu Bedenken: „Viele kleinere Firmen sind heute gar nicht mehr existent.“ Seine Recherchen führten in 90 Prozent der Fälle zu einem negativen Ergebnis. Daher plädieren auch alle Anwälte für die Bildung eines großen Opferfonds, in den die Firmen einzahlen sollen.

Es ist später Nachmittag, der ICE steht zur Abfahrt bereit. Peter-Jochen Kruse läßt sich in den Sitz fallen, der Weg nach München hat sich nicht wirklich gelohnt. Aber er hat seine Prinzipien: Sich nicht vor Gericht vertreten lassen; immer wieder an die Bundesregierung appellieren, schnell einen Entschädigungsfonds zu gründen; anmahnen, daß Ost-Arbeiter nicht ein weiteres Mal benachteiligt werden dürfen; nicht aus der FDP austreten; nur maßgeschneiderte Anzüge mit dem eingenähten Emblem „PJK“ tragen. Die Knöpfe sind zirkelverziert, das Zeichen seiner Burschenschaft.

Wenn man Peter-Jochen Kruse so dasitzen sieht an diesem Abend im ICE, könnte man meinen, der Seniorchef einer gutsituierten Firma sei auf dem Weg zum nächsten Golfvergnügen. Wenn man ihn wütend schnaufen hört: „Das Verantwortungsbewußtsein der deutschen Manager reduziert sich weitestgehend auf die nächste Dividendenausschüttung“ oder „Die Kapitalisten sitzen im Warmen, und den alten Leuten in Osteuropa geht es dreckig“, könnte man annehmen, es wettert einer, der bei der DKP das Lesen gelernt hat.

„Mich haben se“, sagt Peter-Jochen Kruse zum Abschied und drückt die Hand. Gemeint sind seine 750.000 Mandanten. Nur 200 kennt er persönlich – „und das ist vielleicht ganz gut so“. Wäre es anders, „ich würde nur noch mehr barbarische Wut kriegen“.