Chinas heimliche Opposition

Falun Gong behauptet, weder Sekte noch Partei zu sein und sich nicht in Chinas Politik einzumischen. Doch die Machthaber in Peking sind beunruhigt  ■ Aus Peking Georg Blume

Soll niemand sagen, Falun Gong sei vom Himmel gefallen. Denn das ist des Meisters Theorie, die das „Rätsel des Kosmos, von Zeit und Raum und des menschlichen Körpers voll und ganz lösen kann“. Diese Theorie verstehen „gewöhnliche Menschen“ nicht. Aber auch Ungläubige können feststellen, wie sich in Peking eine neue Kultbewegung ausbreitet, die für den offiziellen Atheismus eine zunehmend unübersehbare Herausforderung darstellt. Ihre Anhänger bevölkern Parks und Plätze, um mit ausgestreckten Armen zum Himmel zu zeigen: „Der Buddha streckt tausend Hände aus“ nennen die Anhänger des Falun-Gong-Kults (“Rad des Gesetzes“) ihre erste „Bewegungsübung“. Die zweite nennt sich „Gebotsradpfahlstellung“. Dabei formen die Meisterschüler ihre Arme zu einem imaginären Rad in der Luft, das sich in ihrem Geiste auch dann noch dreht, wenn sie später ins Büro oder in die Fabrik gehen.

Morgens um fünf treffen sich die ersten Gruppen. Sie bringen Verstärker mit, um bei schriller Meditationsmusik für Minuten in Bewegungsstarre zu versinken. In diesem Frühjahr versammelte sich eine Kultgruppe jeden Samstagmorgen vor dem gut besuchten Landao-Kaufhaus im Westen Pekings. Vor der Sporthalle der Hauptstadt kamen jeden zweiten Samstag bis zu viertausend Anhänger zusammen, bis die Partei im April vor solch größeren Treffen warnte.

Zwar ist man in Peking einiges gewohnt: Schwertkämpfer,Taichi-Adepten und Walzerschüler – alle gehen morgens oder abends ihrem Hobby auf offener Straße nach. Beliebt sind die traditionellen Qigong-Gruppen, zu denen sich auch Falun Gong zählt. Unter Qigong versteht man in China Atem- und Entspannungsübungen, die auch von der Partei gutgeheißen werden. Falun Gong ist seit Gründung der Volksrepublik die erste Gruppe, die aus dem Rahmen fällt. Ihr öffentliches Auftreten hat etwas Erhabenes. Die verzerrten Gesichter widersprechen aber der verbreiteten Vorstellung, Falun Gong sei nur eine weitere Meditationsschule. Mit missionarischem Eifer verkaufen die Kultanhänger die Bücher ihres 48jährigen Meisters Li Hongzhi. Er spricht von hundert Millionen Anhängern, Hongkonger Quellen von mehreren Dutzend Millionen. Genug, um die Machthaber zu beunruhigen. Die Führung in Peking sagt, sie habe nichts gegen Falun Gong, solange die „gesellschaftliche Stabilität“ nicht gefährdet sei. Allerdings druckten die Parteizeitungen Mitte Juni erste Vorwarnungen.

Ende April hatte Ministerpräsident Zhu Rongji eine Delegation von Falun Gong empfangen müssen. Zuvor hatte die Kultbewegung die größte Demonstration in Peking seit der Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 organisiert. Zehntausend Falun-Gong-Anhänger demonstrierten vor dem Regierungsviertel für Versammlungsfreiheit und gegen die negativen Medienberichte über ihre Bewegung. Spätestens seitdem weiß das Regime: Der Protest ist der jüngste Ausdruck einer jahrhundertealten Tradition von Widerstandsbewegungen im Reich der Mitte.

In der Geschichte der Kaiserreiche wimmelt es von abergläubischen Mönchsorden, buddhistischen Sekten und uralten Naturreligionen. Der Konflikt hält an zwischen einem staatsnahen und religionsfernen Konfuzianismus und einem Götterglauben im Volk, der sich mit den philosophischen Weisheiten des Konfuzius nie zufriedengab. Diese Auseinandersetzung, die im Reich der Mitte eine eigene revolutionäre Tradition begründete, drohte noch im vergangenen Jahrhundert das Reich zu spalten: Als Karl Marx von einer „einzigen, ungeheuren Revolution“ in China sprach, meinte er die Taiping-Rebellen (1851 – 1863), die das halbe Land besetzten und einem Prediger folgten, der sich als Bruder von Jesus ausgab.

Der deutsche Sinologe Alfred Forke machte in seinem 1927 erschienenen Standardwerk „Die Gedanken des chinesischen Kulturkreises“ als erster auf die Bedeutung der Metaphysik in China aufmerksam. Zwar wußte auch Forke von der „auf das Praktische gerichteten Lebensanschauung der meisten Chinesen“, also ihrem sprichwörtlichen Pragmatismus. Doch beharrte er auf einer zweiten Tradition: „Die Chinesen haben sich mit den metaphysischen Grundgedanken, aus denen sich die Weltanschauungen aufbauen, sehr eingehend beschäftigt.“

Heute ist das erst 1992 gegründete Falun Gong der lebhafteste Ausdruck dieser Tradition. Gründer Li Hongzhi bedient sich in seinen Büchern der jahrtausendealten buddhistischen und taoistischen Mystik, die schon deshalb so neu und verlockend erscheint, weil sie im Zuge der maoistischen Indoktrinierung völlig in Vergessenheit geriet. „Normalerweise sehen wir Dinge mit unseren beiden Augen“, sagt heute Li Hongzhi. „Doch gerade diese zwei Augen versperren unseren Kanal, der zum anderen Weltraum führt.“ Diesen Kanal kannte schon Teng Hsi-tse im 6. Jahrhundert vor Christus: „Wenn wir mit dem Weltauge sehen, so gibt es nichts, was wir nicht sehen können.“ Li verspricht seinen Anhängern nichts anderes: „Wenn dein Himmelsauge die Stufe des sachlichen Auges erreicht hat, wirst du bemerken, daß die Welt ganz anders aussieht. Wenn du ausgehst, werden dich die Steine, die Mauern, die Bäume grüßen.“ Wie die alten Taoisten beschreibt Li zahllose Wunder und Zaubergeschichten als Tatsachen. „Diese Erzählungen sind nicht bewußte Lügen oder reine Erfindungen, sondern der Niederschlag der von den Mystikern in der Ekstase gemachten Erfahrungen“, beobachtete Forke.

In der Regel schließen sich Menschen auf der Suche nach einem zweiten Sinn des Lebens Falun Gong an – darunter enttäuschte Kommunisten und Verlierer der Reformpolitik. In der alten Kaiserstadt Kaifeng am Gelben Fluß trifft man auf einen Germanistikprofessor, der die deutschen Klassiker fehlerfrei zitiert und dennoch bei ihnen und den Kommunisten nicht ausreichend aufgehoben war. Heute praktiziert er mit seiner Frau vor Videobändern den Falun-Gong-Kult. In Peking besinnt sich der Computerexperte eines amerikanisch-chinesischen Chemiebetriebs auf die Lehre von mehreren Welträumen. Er findet darin zu mehr Erkenntnissen als in seinem sechsjährigen Englischstudium. Eine alte Kommunistin, seit Jahrzehnten in ihrem Pekinger Einwohnerkomitee aktiv, ersetzt die Mao-Plakate mit den Postern des Meisters. Ihr ganzer Stolz sind neue Video-CDs von Falun Gong.

Die Kultbewegung verfolgt nach Meinung der meisten Mitglieder keine politischen Ziele. Sie ist straff in „Zweigstationen“, „Stationen“ und „Bezirke“ organisiert. Wie gut diese Strukturen funktionieren, zeigte die Demonstration in Peking. Niemand außer der Kommunistischen Partei konnte bisher zehntausend Menschen aus mehrerenProvinzen kurzfristig nach Peking mobilisieren. Die Spitze der Proteste liegt in deren verschlüsselter ideologischer Radikalität. Li Hongzhi, der mittlerweise aus Angst vor Verfolgungen in Amerika lebt, fügte den alten Weltanschauungen Neues hinzu: Er will – anders als die toleranten Taoisten – eine „richtige Trennungslinie zwischen Gutem und Bösem, zwischen Richtigem und Falschem ziehen und alle Absurditäten ausmerzen.“ So erklärt ein ranghohes Mitglied von Falun Gong in Peking, daß Homosexuelle und Mischlinge die Erde verunreinigen und früher als andere sterben würden. In solchen Erklärungen wird die aggressive, ausgrenzende Seite deutlich. Chinesische Soziologen ordnen die Gruppe einem neuen buddhistisch-taoistischen Fundamentalismus zu.

Die Anhänger eint ihre Enttäuschung über den Kapitalismus chinesischer Prägung. Sie wehren sich gegen eine Ellenbogenmentalität, die alte Sitten verrohen läßt. Sie träumen von einer harmonischen Gesellschaft, in der vorehelicher Sex verboten ist und die Rassen rein bleiben. Öffentliche Kritik am Regime äußern die Li-Adepten nicht. Aber im privaten Gespräch lassen sie nichts Gutes an den Verhältnissen. Im Zweifelsfall verweisen sie auf Lis Bücher.

So harmlos wie die Biographie des Meisters in seinem Grundsatzwerk „Das chinesische Falun Gong“ beginnt, so frech endet sie: „Er (der Meister) wird für die Verwirklichung der idealsten und schönsten Gesellschaft eine unermeßliche Rolle spielen.“ Davor haben die Kommunisten Angst. Allen Warnungen der Regierung zum Trotz sind die Falun-Gong-Anhänger bis heute jeden Morgen in Peking unterwegs. Nur die größeren Treffen sind abgesagt.

Chinesische Soziologen sehen in Falun Gong einen neuen buddhistisch-taoistischen Fundamentalismus