Flaneure der Unterwelt

■ Das Freicore-Duo Steiner entwickelt auf „Accidentialism“ Songs aus Unfällen und überrascht alle Kritiker mit richtigen Beats

Seltsam, aber so steht es geschrieben: Die Klangwelt von Steiner gerät ins Rollen. So richtig mit Beats, Bumms und dicken Backen. Relativ gesehen natürlich. Dennoch ein guter Moment zum Aufatmen für all diejenigen, denen die bisherigen Musikäußerungen des Hamburger Freicore-Duos Kintz und in't Veld auf die Eier gingen.

Auf Accidentialism, ihrem mittlerweile dritten und selbstverlegten Album, entsagen die zwei ihrer bisherigen Scheu, musikalische Klarheit auch durch Beats anzustreben. Ja, es ist Jazz, und ja, es gibt sie, die klassischen Melodien und Rhythmen, die tonnenweise für Momente des Wiedererkennens sorgen werden. Als Gastmusiker wurden dazu mit Michele Avantario von Helgoland und Ex-Unhold Stephan Lehmann am Synthesizer zwei gute Mittelgewichtler der Hamburger Musikszene verpflichtet.

Für Steiner-Verhältnisse ist Accidentialism ein wahres Hitalbum mit vielen guten Zuschreibungsmöglichkeiten. „Leute“, werden manche sagen, „ihr könnt ja richtige Lieder schreiben!“ Ein nettgemeintes, wenn auch zweifelhaftes Kompliment. Denn Steiner wußten schon lange, wie man Songs schreibt, nur wollten sie dies eben nicht. Was bislang dabei herauskam, hat eine eigene Geschichte und wurde von Wohlgesonnenen mit „Kunst“ umschrieben. Skeptiker hingegen hängten noch ein „Kacke“ hintendran.

Aber da sind doch diese wohlklingenden Songtitel: Erst „Velours“, dann „Picnic“ und zum Schluß noch „Petisco“. Klingt nach ästhetisiertem Popanz, wozu die loungierte Covergestaltung den Augenschmaus liefert. Und dann noch dieses Selbstverständnis als Reisende in Sachen Avantgarde, Flaneure einer musikalischen Unterwelt: Das Coverfoto zeigt einen Tunnelanfang und meint, mal gucken, was passiert, wenn man reinfährt. Dunkel verspricht Neues, mindestens aber Unerwartetes. Deswegen auch der Albumtitel. Das identitätsstiftende Andocken an die philosophische Welt des „Accdentialism“ und ein von Francis Bacon entliehener Text hauen einem erstmal eine gehörige Portion Geschmack und Gelehrigkeit um die Ohren und werden bestimmt nicht wenige veranlassen, diesem schlaumeierisch anmutenden Brückenbau gehörig in den Arsch zu treten.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Steiner sind nicht etwa altklug oder devot, sondern glauben an ein selbstgewähltes Schicksal ebenso wie an ihre Musik und daran, daß sich Entwicklung nicht in zeitlichen Kategorien messen lassen muß. Anders ist ein Soundsaurier wie „4711“, der auch exakt solange dauert, nicht zu erklären. Und schließlich steht hier nichts geringeres als das Prinzip der künstlerischen Freiheit auf dem Spiel. Und was zählen da schon ein paar Schläge unter die Gürtellinie? Oliver Rohlf

Sa, 3. Juli, 21 Uhr, Molotow