Gleichmäßige Wischbewegungen

■ Nationale Kochtöpfe: Archaisches Theater aus Bulgarien und Estland

Die Bühne ist fast dunkel. Bloß ganz vorne sitzt im Schummerlicht ein Mensch in Lumpen und bespuckt grunzend eine kleine Lehmfigur. Die Stimmung ist archaisch. Während man nun auf das Erscheinen eines keulenschwingenden Neanderthalers wartet, steigt von ganz oben jemand eine Leiter herunter und fragt: „Wer bist du?“, und der unten antwortet: „Ich bin Gott“, worauf der obere wieder fragt: „Und wer bin ich?“ – „Auch du bist Gott.“ Damit sind die Eckpunkte des Plots festgeschrieben: Himmel und Hölle, Gott und Teufel – der Untere ist nichts anderes als dieser. Das Bespucken der Lehm–figur ist der Versuch, Gottes Schöpfungsakt nachzuvollziehen. Daß Gott den Lehm bespuckte, aus dem er den ersten Menschen formte, überliefern die Legenden der bulgarischen Bauern, und die müssen es schließlich wissen.

„Apokryph“ heißt die mythenschwangere Verantstaltung, mit der das bulgarische Sfumato Theater beim Theater der Welt zu Gast ist. Apokryph, das heißt verborgen und meint jene biblischen Geschichten, die von den Redakteuren der Bibel einst verworfen wurden. Aus frühmittelalterlichen Ketzerschriften und Bauernlegenden haben die beiden Sfumato-Macher Margarita Mladenova und Ivan Dobtschev ein Traumspiel über urzeitliche Vorstellungen vom Sein und Nichtsein, vom Diesseits und Jenseits gezimmert.

Im Zentrum eine Gruppe von etwa neun Frauen, Klageweiber, die manchmal alte Lieder singen oder Wasser schöpfen. Einmal liegen sie bodenscheuernd auf der Erde und erzählen ihre Version des Sündenfalls und der Vertreibung aus dem Paradies, wobei die gleichmäßige Wischbewegung mit dem Singsang ihrer Sprache korrespondiert und das gebückte Kreuz natürlich gleich verdeutlicht, wer die Hauptlast von Gottes Fluch zu tragen hat.

Eine Gruppe von Frauen steht auch im Zentrum von „Estonian Games. Wedding“ von Peeter Jalakas, Gründer und Regisseur des Von Krahl Theaters, dem ersten unabhängigen Theater Estlands. Die Frauen tragen bunte estnische Trachten, und auch der angestrengte Versuch, dem Abend den Geist der Avantgarde mit Hilfe eines Computers einzuhauchen, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es eine veritable Trachtengruppe ist, die hier auftritt. Doch beginnen wir von vorn.

Peeter Jalakas sitzt am Regiepult. Vor ihm ein Laptop, dessen Bildschirm auch auf eine Leinwand projiziert wird. Erst mal geht ein Videospiel names „World Games“ los. Per Mausklick entscheidet sich Spieler Jalakas für ein Fleckchen Europa ganz im Osten. Auf der Landkarte, die dann auf dem Bildschirm erscheint, ist es eingekreist wie jenes gallische Dorf, in dem die Comic-Helden Asterix und Obelix beheimatet sind. Und ein paar stumpfe Comic-Helden brechen dann auch aus der Leinwand heraus. „Sure you will continue 3D-level?“ fragt sicherheitshalber der Computer, und Jalakas klickt beherzt „o.k.“ Nun beginnt der Parcours durch die Geschichte Estlands, von 1100 bis jetzt, das heißt 900 Jahre in 75 Minuten. Eine Geschichte, die selbstredend in der Unabhängigkeit Estlands 1992 kulminiert. Im Vordergrund spielen die volkstümlichen Helden ihre volkstümlichen Legenden. Die Frauen vom Setu-Chor Leiko singen alte estnische Lieder dazu und halten ansonsten ein langes gewebtes Band, wahrscheinlich das Band der estnischen Tradition, das immer wieder auch auf den Leinwandanimationen im Hintergrund erscheint. Sie singen und singen, und hätten sie nicht neunhundert Jahre gesungen, wer weiß, was aus Estland geworden wäre.

Schauplatz sind die Sophiensäle, beim Sfumato Theater das Theater am Halleschen Ufer. Wir sind noch immer beim Theater der Welt und stellen fest, daß der Blick auf die Welt, den dieses Festival bietet, auch ein Blick in nationale Kochtöpfe ist, in denen eher Schwerverdauliches vor sich hinköchelt. Esther Slevogt