Hinrichtungsrituale

Im Kinderfilm darf der Böse nicht mehr einfach zu Tode stürzen, er muß im Hochspannungstransformator brutzeln  ■   Von Welf Kienast

Wer hätte sich nicht schon einmal gefragt, was für ein lieber und kuscheliger Spielkamerad King Kong hätte sein können, wenn er nur nicht ganz so tapsig durch die Zivilisation getorkelt wäre. Nun hat Disney die Light-Version von King Kong herausgebracht: „Mein Freund Joe“ ist ein freundliches Familienmonster: kinderlieb, sensibel und treu. Aber natürlich gibt es da einen beängstigend bösen Großwildjäger, der King Kongs Enkel an den Pelz will.

Dank Disney geht alles gut aus: Der nette Riesengorilla bekommt ein angemessenes Zuhause, die engagierte Tierschützerin bekommt den engagierten Tierschützer, und der böse Großwildjäger bekommt seine gerechte Strafe. Er stürzt in den Hochspannungstransformator eines Vergnügungsparks und wird unter einigem Zischen, Blitzen und Kokeln zu Tode gebracht.

Diese Bestrafung ist völlig berechtigt, denn schon gleich zu Beginn des Filmes tötet der Mann die Mutter des Riesenaffen und die engagierte Mutter der engagierten Tierschützerin. Gegen Ende dämmert es dann sogar dem skrupellosen Jagdgehilfen des Finsterlings: „Du bist kein Jäger, sondern ein Mörder.“

Für diese Erkenntnis legt ihn sein Boß kurzerhand um, und zum großen Finale geraten sogar Joes Beschützer nebst einigen unschuldigen Kindern ins Visier. So einer hat den Tod mehrfach verdient. Daher genügt es auch nicht, daß er einfach in den Tod stürzt. Er muß auch noch in den besagten Transformator fallen, um dort wie auf einem elektrischen Stuhl zu verbrutzeln.

Ob die Kids im Kino dann wohl auch johlen und feixen, wie das die Straßenkinder früher bei Hinrichtungen getan haben, als das Gesetz noch nicht von all der Humanitätsduselei gebremst wurde? Der aufgeklärte Pädagoge jedenfalls wird sich in diesem Film die Augen reiben. Für einen sonst harmlosen, ganz und gar züchtigen, ökologisch korrekten Samstagnachmittagsfilm ist der böse Wilderer hier geradezu unfaßlich böse. Und seine Bestrafung nicht minder kraß.

Doch wäre eine normale Verhaftung nicht vielleicht ein wenig zu blaß gewesen? Was sind schon ein Paar Handschellen gegen einen Hochspannungstransformator. Wenigstens im Kino sollen die Bösen am Ende eines Filmes im Duell sterben, in tiefe Schluchten stürzen, von Zügen erfaßt oder von herabfallenden Containern zerquetscht werden, dann mag ich im Leben weiter auf ein aufgeklärtes Strafrecht vertrauen.

Es gab ja auch immer jene Filme, in denen der rachedurstige Held über dem besiegten Finsterling kniete und doch nicht abdrükken mochte. Oft rieten ihm besorgte Freunde im letzten Moment: „Laß das Schwein leben. Es lohnt nicht, daß du dir seinetwegen die Hände schmutzig machst.“ Freilich ist das weit unspektakulärer und weniger befriedigend als erschießen, zermalmen und zerfetzen. Immerhin kann ich hier noch die heroische Selbstüberwindung dessen bewundern, der seine Wut zurückstellt und der Weisheit des Gesetzes vertraut.

Nach der gängigen Kompromißformel Hollywoods müssen die Bösen ihren Tod als Notwehrreaktion selbst provozieren. Daher kriegt der Fiese am Ende immer noch einmal eine versteckte Waffe zu fassen und muß erledigt werden, ehe er den Helden von hinten niederschießen kann. Am besten ist es natürlich, wenn so ein Bösewicht von der Bombe zerfetzt wird, die er selbst legte, oder in dem Flammeninferno untergeht, das er selbst entfacht hat. So bleibt das Gesetz intakt, und dennoch ist unser Blutdurst gestillt.

Kinder- und Familienfilme freilich waren von dieser Logik zumeist ausgenommen. Hier galt der Glaube an das Gute im Menschen. Auch die Bösen konnten letztlich gebessert werden oder endeten zumindest in harmloser Lächerlichkeit. Aber selbst hier sind die Zeiten brutaler geworden.

Man muß nicht gleich bedenklich mit dem Kopf wackeln, wenn ausgiebig mit Pyrotechnik und Splattereffekten gespielt wird. Die neue Brutalität kommt nicht aus der realen Lebenswelt, sondern entstammt direkt der Kinogeschichte. Da hat zum Beispiel seit Tim Burtons düsteren Batman-Filmen der Einfluß einer grellen und offensiven Comicästhetik auch auf den Realfilm übergegriffen. Vor allem aber wurde durch die Eingemeindung filmischer Randgebiete in den Mainstream der Toleranzrahmen allenthalben erweitert. Horror, Splatter, Gore und Trash sind ebenso Kult wie deren längst nach Hollywood umgezogene Großmeister. Diese Einflüsse haben die Gewaltwahrnehmung im Kino nachhaltig geändert und schlagen auch auf die jüngeren Zuschauer zurück.

Es scheint nun aber, als habe sich unter dem Deckmantel der lustvollen und anarchistischen Gewaltdarstellung mancher Filme eine ganz andere Form der Gewalt ins Kino eingeschlichen. Denn während die oben genannten Einflüsse fernab jedes moralischen Anspruchs auf die pure Schaulust zielen, gibt es seit neuestem eine kalte, moralisch abgesicherte Grausamkeit. Ihre Exekutionsformen erinnern immer wieder fatal an jene Hinrichtungsrituale, die in manchen US-Staaten, unter anderem auch dem Sonnenstaat Kalifornien, noch immer praktiziert werden. Die Todesstrafe liegt im Trend.

In „Payback“ richtet Mel Gibson zwei Mafiosi hin: Er setzt seinen wehrlosen Gegnern den Revolver auf die Stirn und drückt ab. Danach macht er wieder seine Witze. „Payback“ ist das verspielte Remake des John-Boorman-Klassikers „Point Blank“. Dort drohte Lee Marvin einst mit Grabesstimme, er werde eiskalt abdrücken, und schoß dann doch gezielt daneben. Kein ästhetisches Argument erklärt, warum der fesche Mel heute an dieser Stelle so viel härter ist als der harte Lee Marvin. Der Zuschauer aber wird Mel Gibson trotzdem auch hier nicht die Sympathie entziehen, denn die beiden Opfer hatten ihre Strafe nun scheinbar wirklich verdient.

Verdient haben ihr Ende auch die Snuff-Movie-Pruduzenten in „8 mm“. Da darf Nicolas Cage einen gefesselten Kinderschänder langsam mit dem Pistolenknauf zu Tode prügeln und bekommt dafür den enthusiastischen Dankesbrief der gerührten Mutter des mißbrauchten Mädchens. In Scorseses „Taxi Driver“ war ein solcher Brief noch bittere Ironie, in „8 mm“ rehabilitiert er den Rächer als Biedermann und Familienvater. All diese Strafrituale kommen recht unterkühlt und sachlich daher. Kein spritzendes Hirn, kein strömendes Blut muß gezeigt werden; nur soviel, daß der Zuschauer um die Vollstreckung des Urteils weiß.

Auch der gegrillte Großwildjäger in „Mein Freund Joe“ wird nicht als pyrotechnische Leistungsschau inszeniert, sondern als angemessener Strafvollzug. Kaum hat der bekehrte Jagdgehilfe seinem Boß das Urteil gesprochen: „Du bist kein Jäger, sondern ein Mörder“, da muß der Schädling auch schon auf den elektrischen Stuhl: Instant gratification. So lernen Kinder, was Recht (und billig) ist.

Die unergründliche Weisheit der Programmplaner will es nun, daß Disney parallel zu „Mein Freund Joe“ noch ein zweites Kuschelmonster auf die jungen Zuschauer losläßt. „Doug's 1st movie“ ist ein recht unaufwendiger Zeichentrickfilm. Da finden zwei Teenager ein kleines Ungetüm, das sich in Folge der hohen Wasserverschmutzung nicht länger auf dem Grund seines Sees verstecken kann. Der böse Umweltverschmutzer, ein allmächtiger Kleinstadtindustrieller, will das Monster mit allen Mitteln verschwinden lassen, um keinen Umweltskandal zu riskieren. Am Ende aber bringen die Kinder das Untier in einen sauberen See, und der böse Industrielle gelobt Besserung.

So sahen einst pädagogisch wertvolle Filme aus. Ironischerweise kann dergleichen offenbar nur noch in der Comicwelt eines Zeichentrickfilms vorkommen. Dabei galten früher gerade Comicfilme als besonders grausam und jugendgefährdend.

„Mein Freund Joe“. Regie: Ron Underwood. Mit Bill Paxton, Charlize Theron u.a. USA 1997, 111 Min.