Das Städtespiel

■ Die Regierung kommt, die Sendeanstalten kommen, die Boheme ist schon gekommen. Manche gehen aber auch. Fragen eines Ehemanns beim Umzug – weg von Berlin

Lange bevor wir aus Berlin wegziehen mußten, hatten Q. und ich ein Spiel am Laufen. Das ging so: „Wo würdest du eher hinziehen: Nach Dresden oder nach Essen?“ (Nach Essen oder nach Stuttgart? Nach Weimar oder nach Kiel?)

Die Antwort konnte nur in einem der beiden Ortsnamen bestehen. Der Clou war, daß nur Orte ins Spiel gebracht wurden, an die man gewiß nicht ziehen wollte. Es ging um die Vorstellung des Müssens, um den Schatten der Furcht. Was wäre, wenn man, wegen Beruf und Geld, weg müßte aus Berlin?

Nun ist es also soweit. Aber nicht ich werde in Frankfurt am Main Dr. Wichtig sein, sondern Q. Ich, als Freiberufler mit Wurzeln im Abstrakten, muß mitziehen. Sie wird sehr viel mehr Geld haben als vorher und mit Sicherheit mehr Geld als ich. Natürlich hat sie gleich gesagt, daß sich durch den Umzug meine Lage nicht verschlechtern darf. Was ja nur heißen kann: Sie wird den ehelichen Haushalt subventionieren. Meine Arbeit, mein Geld, wird ein schönes Zubrot sein.

Nun treffen uns mitleidige Blikke: Wegziehen aus Berlin! Ja, wie findet ihr denn das? Und wir sollen natürlich sagen: Das ist schrecklich! Zu gern wären wir hiergeblieben. Eigentlich kann man woanders gar nicht wohnen. Den frivolen Spruch: „Biete Villa in Bonn, suche Zimmer in Berlin“ gibt es inzwischen schon als Autoaufkleber.

Zu den sogenannten Argumenten gibt es natürlich auch die Gegenargumente. Zum Beispiel: So toll ist Berlin ja auch nicht. Die PDS-Szene vom Prenzlberg, der Kleinbürgerschick am Potsdamer Platz, in der Oper nur noch Touristen ... Oder: Frankfurt am Main ist nicht übel, die Jugend viel schicker, die Mischung aus 68er-Intelligenz und Börsenästhetik gar nicht uninteressant. Ja, ein Freund tat uns den Gefallen zu äußern, Ffm habe für ihn das Flair einer Hafenstadt, nur daß dort der Hafen der Flughafen sei.

So kommen wir wieder auf das Städtespiel: Lieber nach Berlin oder lieber nach Frankfurt? Und wenn man sagt Ffm, dann muß man natürlich den Kopf anstrengen, weil es kleiner ist, und wenn man Berlin sagt, hat man gut reden: So wie unsere Freunde und Kollegen, die in die andere Richtung wechseln und uns aufrichtig bedauern.

Manchmal sind wir uns aber nicht sicher, ob sie sich nicht nur selbst beglückwünschen.

Will man nicht zum Menschenfeind werden, darf man sich dem Gespräch nicht verweigern, und wo das Gespräch hinläuft, da läuft es hin. Wir haben in den letzten Monaten viel Städte verglichen, ob wir wollten oder nicht.

Genaugenommen wollen wir nicht, weil nämlich der Vergleich eine Wahl impliziert, und genau die haben wir nicht. Wir ziehen in die Stadt, in der Q. Dr. Wichtig spielen darf, und das ist die entscheidende Veränderung. Anders als zuvor wird sie morgens aus dem Haus gehen und abends mit Bürosorgen zurückkommen. Ich werde Mühe haben, meinen späten Rhythmus auf einen früheren umzustellen. Wir werden die Rhön und die Lorraine erkunden, aber wir werden auf der Straße sein, wenn alle es sind, am Wochenende. Ich werde mich Zwängen des Angestelltenlebens unterwerfen, obwohl ich selbst keiner bin. Ich hoffe inniglich, daß Q., als Apparatschik, nicht mitleidsvoll auf meine Projekte herabschauen wird, deren mögliches Gelingen sie sich im schlimmsten Fall – wegen Subventionierung des Haushalts auf ihre Kosten – am Ende selbst zuschreibt.

Eigentlich sind wir froh, daß sich etwas tut, nachdem wir über viele Jahre dessen nicht sicher waren; aus der Furcht, daß der Einstieg ein Einstieg ins Vergessenwerden sein könnte, stammte ja unser Städtespiel.

Was Berlin angeht, so gilt für Q., daß es ihr nichts genützt hat. Keine der großen Universitäten hat ihr eine Assistentenstelle angeboten. Bei keiner der Zeitungen in Berlin wollte sie arbeiten, die Verlagsszene war ihr zu klein und zu eng. Ich hätte aus Berlin Kapital schlagen können, indem ich über die dramatischen Veränderungen berichtet hätte; habe ich nicht. Mich hat die Kultur in Mönchengladbach und Leipzig nicht weniger interessiert. Unser Land ist föderal, und ich bin ein Reisender.

Berlin ist für Q. und mich vor allem unsere Geschichte. Hier haben wir uns in der Uni kennengelernt, und es war ein weiter Weg vom linguistischen Seminar bis zum ersten Zungenkuß. Wir haben lange in den Kiezen gewohnt und sind ihnen glücklich entkommen. Die Stadt ist aufgesprungen wie eine Fessel, aber unser Verdienst war das nicht. Anders als viele verkrustete Westberliner, haben wir die Situation begrüßt und in vielen brandenburgischen Seen gebadet. Nun ist der Bundestag gekommen und er sieht gut aus, gesehen von Fosters Himmelszelt. Aber wir haben die Entwicklung nur am Rande verfolgt. Wir sind keine Hauptstadtberliner von Herzen; es kränkt uns nicht, wenn wir nicht täglich am Straßenrand stehen können, um die Wimpel zu schwenken.

Mit einer solchen Sicht auf Berlin erübrigt sich vielleicht die Würdigung des neuen Wohnorts. Ist er lauter, ist er weniger grün? Ist er teurer, kommt man dort schneller weg? Wird die Dichte des professionellen Mileus uns nützen, oder wird es uns auf die Nerven gehen?

Das „wir“ ist der eigentliche Punkt, ja geradezu eine Fragepronomem. Wir Streß? Wir Zukunft? Wir einig? Wir fester als je zuvor? Vor einigen Jahren sah der Gesetzgeber noch vor, daß der Ehemann den Wohnsitz bestimmt. In gewisser Weise folgen wir dem Modell mit umgekehrtem Vorzeichen.

Aber so wie das Ich ist ja auch der Ehemann nicht Herr im eigenen Hause und seine Nachfolgerin auch nicht: Wir fügen uns dem Zugriff einer Institution. Darum geht es. Wir haben viele Entscheidungen delegiert, indem wir uns dafür entschieden haben. Es ist eine gewöhnliche Sache, Dr. Wichtig zu sein, aber ich werde Q. beobachten, wie sie das macht.

Sie hat mich in eine andere Stadt versetzt. Das wird ihr noch eine Weile unheimlich sein. Dann wird sie es vergessen. Und dann ich auch. Jörn Kreikers Bruder