■ Die Beantwortung der kurdischen Frage ist von zentraler Bedeutung für das Selbstverständnis der türkischen Gesellschaft
: Hängen oder nicht hängen

Es kann Zufall gewesen sein – oder aber auch ein Hinweis ganz besonderer Art: Der 29. Juni, an dem das Todesurteil gegen den Führer der „Arbeiterpartei Kurdistans“, PKK, Abdullah Öcalan, erging, hat für geschichtsbewußte Kurden eine besondere Bedeutung. Am 29. Juni im Jahre 1925 wurde Scheich Said, der Führer des größten Kurdenaufstandes in der Anfangsphase der Türkischen Republik, nach gescheitertem Kampf gehängt. Geschichte wiederholt sich, und am Ende steht immer dasselbe Ergebnis: Tod durch den Strang.

Es gibt aber auch eine andere Interpretation dieser scheinbaren historischen Kontinuität. Solange kurdische Aufstände nur militärisch beantwortet werden, kommt nach Scheich Said und Abdullah Öcalan demnächst wieder ein neuer „Apo“. Eines jedenfalls zeigt dieser Zusammenhang deutlich: Die kurdische Frage ist seit der Gründung der Türkischen Republik im Jahre 1923 ein andauerndes, manchmal mehr, manchmal weniger virulentes, entscheidendes Problem dieses Staates. Wie sie beantwortet wird, ist von zentraler Bedeutung für die Zukunft der Türkei.

Seit langem gärende Fragen nach dem Selbstverständnis der türkischen Gesellschaft, der Entscheidung zwischen Ost und West, Despotie und Demokratie, modernem Verfassungsstaat und Zwangsgemeinschaft unter militärischer Aufsicht, bündeln sich nun symbolisch in der einen Entscheidung: Hängen oder nicht hängen.

Dabei mutet es wie ein Treppenwitz der Geschichte an, daß ausgerechnet der Mann Abdullah Öcalan diese Entscheidungen personalisiert; daß sich gerade an dieser Person nun soviel festmacht. Der PKK-Chef ist niemand, mit dem sich ein gesellschaftlicher Fortschritt verbinden läßt. Er ist nicht wie Mahatma Ghandi, Martin Luther King oder Nelson Mandela die Verkörperung einer Idee, kein Mensch, der gesellschaftliche Phantasie mobilisieren könnte. Die von ihm gegründete und geprägte Organisation ist keine demokratische, offene Organisation, die den Keim einer neuen Gesellschaft in sich trägt.

Die PKK hat, seit ihrer Gründung in den späten siebziger Jahren, auch und gerade unter Kurden, Angst und Schrecken verbreitet. Sie ist die spiegelbildliche Entsprechung der feudalistischen Despotie und der neokolonialistischen türkischen Herrschaft in den überwiegend kurdisch besiedelten Gebieten des Südostens der Türkei. Was Öcalan und die PKK bewirkt haben, ist die Entwicklung eines modernen kurdischen Nationalismus.

Als Abdullah Öcalan seine PKK gründete, war er ein marxistisch angehauchter Student unter tausend anderen. Er gehört zu keiner der großen kurdischen Familien, er vertritt keinen Clan, sondern wurde überhaupt erst im Kampf gegen den kurdischen Großgrundbesitz bekannt. Deshalb wurde die PKK zu einer – im Vergleich mit anderen kurdischen Parteien, die immer noch getarnte Feudalvereine sind – modernen Organisation, die in der Lage war, die Vorstellung einer kurdischen Nation jenseits tribaler Strukturen zu entwickeln.

Öcalan verkörpert diesen Nationalismus, und damit müssen sich die türkischen Nationalisten nun auseinandersetzen. Um den Krieg im Südosten zu legitimieren, um die hohen Kosten an Menschenleben und gesellschaftlichem Reichtum zu rechtfertigen, die der „Kampf gegen den Terrorismus“ gefordert hat, ist Abdullah Öcalan von Politikern und den Medien des Landes über Jahre als „das Böse“ an sich verteufelt worden.

Mit dem Terroristen Apo durfte es keine Verhandlungen, keine Gespräche, keine Vereinbarungen geben. Damit hat der türkische Staat sich über Jahre in eine Sackgasse manövriert, aus der es kaum noch einen Ausweg gab.

Erst mit der Unterstützung der USA und Israels gelang es, Öcalan aus Syrien zu vertreiben und letztlich in Kenia zu schnappen. Seitdem hat sich die Situation dramatisch verändert. Hätte die türkische Propaganda recht, wäre das Problem mit der Aburteilung und Hinrichtung des „Babykillers“ erledigt. Da die führenden Politiker und Militärs genau wissen, daß das nicht der Fall ist, muß man nun einen Ausweg aus der eigenen Propagandafalle finden.

Es ist das historische Verdienst des Staatssicherheitsgerichts Ankara und hier vor allem des Vorsitzenden Richters Turgut Okyay, durch die Art der Prozeßführung wieder politische Handlungsmöglichkeiten eröffnet zu haben. Der Prozeß hat Abdullah Öcalan entdämonisiert. Und er hat für jeden deutlich gemacht, daß man nicht über den „Terrorismus“ der PKK reden kann, ohne die kurdische Frage auf den Tisch zu legen. Seit am Dienstag das Urteil gefällt wurde – ein Urteil, das aufgrund der Gesetzeslage zum Bedauern des Vorsitzenden Richters zwangsläufig war –, ist nun die eigentliche Debatte eröffnet.

Hängen oder nicht hängen ist das Synonym für die Frage: Weiter so wie bisher oder einen neuen Anfang machen? Die türkische Politik ist an einem Punkt angelangt, an dem Entscheidungen gefällt werden müssen. Der kurdische Nationalismus, das Verhältnis zu Europa, die Demokratisierung des Landes auch im Verhältnis zum politischen Islam – keine dieser Fragen läßt sich mehr auf die lange Bank schieben.

Erstmals seit knapp zehn Jahren gibt es zur Zeit eine Regierung, die im Parlament eine stabile Mehrheit hat. Der Linksnationalist Bülent Ecevit und der Rechtsnationalist Devet Bahceli von der MHP, unterstützt von der konservativen, kapitalorientierten Anap des Mesut Yilmaz, müssen nun Entscheidungen fällen, die seit Jahrzehnten in der Schwebe sind. Deshalb ist die Debatte um das weitere Schicksal von Abdullah Öcalan nun tatsächlich eine „historische Diskussion“. Je gründlicher die Debatte geführt wird, um so größer ist die Chance, daß die Vernunft sich gegen die lange ge-pflegten Ressentiments durchsetzt.

Dafür braucht es einige Wochen Zeit und ein Klima, das nicht durch neue Anschläge oder Provokationen angeheizt wird. Wenn die PKK klug ist, vermeidet sie nun alles, was den Hardlinern auf der anderen Seite neue Argumente liefert. Dasselbe gilt für die europäischen Staaten und die EU.

Es wäre klug, anzuerkennen, daß der Prozeß gegen Öcalan, im Rahmen dessen was möglich war, bemerkenswert fair und offen geführt wurde. Der große moralische Zeigefinger aus dem Westen wäre für die nun endlich laufende innertürkische Debatte nur kontraproduktiv. Wenn die EU, wie zuletzt beim Gipfel in Köln, schon nicht in der Lage ist, ein eindeutig positives Signal nach Ankara zu senden, sollte man sich jetzt einfach ruhig verhalten und abwarten.

Die Entscheidung ist noch offen, aber die Chancen stehen nicht schlecht. Jürgen Gottschlich

Öcalan ist niemand, mit dem sich ein gesellschaftlicher Fortschritt verbinden läßtMan kann nicht über die PKK reden, ohne die kurdische Frage auf den Tisch zu legen