Atomfrage zwischen Rot-Grün bleibt strittig

Sollte es nicht zu einem akzeptablen regierungsinternen Konsensvorschlag kommen, erwägen die Grünen einen Atomsonderparteitag. Umweltminister Trittin erhält Rückendeckung vom Realo-Flügel  ■   Von Jürgen Voges

Hannover (taz) – Der Atomkonsensvorschlag von Bundeswirtschaftsminister Werner Müller bleibt innerhalb der rot-grünen Bundesregierung weiter strittig. Ein Gespräch des Bundeskanzlers mit Müller und Bundesumweltminister Jürgen Trittin blieb am Mittwoch abend ohne greifbares Ergebnis. Es habe in dem Gespräch keine Entscheidung über den Vorschlag von Müller gegeben, für alle bundesdeutschen Atomkraftwerke eine Lebensdauer von 35 Jahren vertraglich festzuschreiben, sagte gestern ein Sprecher des Bundesumweltministeriums. Die Dreierrunde will jetzt zu einem späteren Termin noch ein weiteres Mal über Müllers Konsenspapier beraten.

Trittin und eine Mehrheit der Grünen fordern weiterhin, daß in dem von Müller vorgeschlagenen Vertrag eine AKW-Lebensdauer von deutlich unter 30 Jahren festgeschrieben wird. Nur in diesem Fall müßten in der jetzigen Bonner Legislaturperiode bereits mehrere Atommeiler vom Netz. Auf der letzten Grünen-Parteiratssitzung hatten auch führende Realos aus mehreren Bundesländern den Müller-Vorschlag als nicht akzeptabel bezeichnet.

Der kleinere Bonner Koalitionsparter bereitet sich nun schon gedanklich darauf vor, daß Schröder und Müller auf einem für die Grünen nicht akzeptablen Konsensvorschlag bestehen könnten. Nach Angaben einer Parteisprecherin ist Grünen-Chefin Antje Radcke der Auffassung, daß es bei einem unbefriedigendem Ergebnis der regierungsinternen Konsensgespräche zu einem Grünen-Sonderparteitag kommen könnte. Auf einem solchen Parteitag stünde dann zwangsläufig nicht nur der Atomkonsens, sondern auch die Koalitionsfrage auf der Tagesordnung.

Umweltminister Jürgen Trittin ließ gestern mitteilen, die Forderung nach einem grünen Atomsonderparteitag sei nicht seine Erfindung, er gebe in dieser Frage nur einen in der Partei diskutierten Wunsch weiter. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele sagte, die Frage eines Atomsonderparteitages würde bei den Grünen schon seit einiger Zeit breit diskutiert. Er halte es für richtig, daß in einer solch zentralen Frage bei einem für die Grünen schwierigen Vorschlag der Bundesregierung ein Parteitag die Entscheidung fälle.

Der mit parteiinternen Rücktrittsforderungen konfrontierte Trittin hat indes Rückendeckung von Fraktionschef Schlauch und der Hamburger Wissenschaftssenatorin, beide Vertreter des Realo-Flügels, erhalten. Schlauch sagte, er sehe überhaupt keinen Grund, den Minister in Frage zu stellen. Sager nannte die Rücktrittsforderung der Grünen-Abgeordneten Metzger und Scheel eine „Riesendummheit und Sauerei“.

Unterdessen drohte der Vorstandsvorsitzende der Veba, Ulrich Hartmann, erneut mit einem völligen Abbruch der Konsensgespräche, falls nicht nach der Sommerpause der Weg für Atommülltransporte aus dem AKW Stade in die Wiederaufarbeitung in Frankreich freigemacht würde. Hartmann behauptete erneut, daß ohne einen baldigen Brennelementetransport im AKW Stade ein Stillstand drohe. Auch Bundeswirtschaftminister Müller sagte, die Energieversorger hätten alle Unterlagen für eine Aufnahme der WAA-Transporte eingereicht und hätten ein Recht auf zügige Bearbeitung.

Allerdings ist für das AKW-Stade vor wenigen Wochen ein Zusatzgestell für das Abklingbekken beantragt worden, das Platz für 43 weitere abgebrannte Brennelemente schafft. Nach der Genehmigung dieses Zusatzgestells kann nach Angaben des niedersächsischen Umweltministeriums der Reaktor ohne Transporte nach Frankreich bis zum Frühjahr 2001 weiterlaufen.

Das Bundesamt für Strahlenschutz wartete bisher außerdem immer noch auf einen Antrag auf Wiederzulassung der französischen Behälter, mit denen die Transporte in die Wiederaufarbeitung durchgeführt werden. Die Zulassung dieser Behälter mit äußeren Kühlstacheln, bei denen sich die Außenkontaminationen besonders gehäuft haben, ist im Frühjahr ausgelaufen.