„Das ganze Wertesystem ist ruiniert“

■  Die Belgrader Studentin Mira Kovacevic über die Rolle der Opposition in der Gesellschaft: „Die Demokratisierung muß von innen kommen.“ In Serbien gebe es „ ernstgemeinte Reue. Eine kollektive Verantwortung für die Verbrechen gibt es nicht“

taz: Während der Proteste vom Winter 1996/97 waren die Studenten eine tragende Kraft. Wo sind sie jetzt?

Mira Kovacevic: Das größte Problem war für uns damals das Auseinanderbrechen der Koalition Zajedno. Danach haben sich Studentenorganisationen gegründet und sich hauptsächlich studentischen Problemen gewidmet. 1998 gab es starke Proteste gegen das neue Universitätsgesetz. Und ein Teil der Studenten war Initiator der Anti-Kriegs-Kampagne und der Bewegung Otpor. Auch während des Kosovo-Kriegs waren die Studenten aktiv. Eine Gruppe hat eine Web-Seite gemacht, „Other voices from Serbia“. Das war für uns während des Krieges die einzige Möglichkeit, eine Stimme zu haben und uns auszudrücken.

Vielfach wurde behauptet, daß die Angriffe der Nato die Opposition gegen Miloševic geschwächt hätten. Wie hat sich der Krieg auf diejenigen Kritiker ausgewirkt, die nicht in politischen Parteien organisiert sind?

Das hat sich während des Krieges gewandelt. Am Anfang waren viele Leute sehr enttäuscht darüber, daß sich die Nato entschieden hat, gegen unser Land Waffen einzusetzen. Als Miloševic dann das Friedensabkommen unterschrieben hat, haben sie begriffen, daß sie mit ihrer Arbeit weitermachen müssen, um politische Änderungen herbeizuführen. Trotzdem ist die Arbeit für uns schwieriger geworden, denn Miloševic hat jetzt die Möglichkeit, alle Schwierigkeiten mit der Nato-Intervention zu begründen. Das größte Problem ist aber, daß jetzt, wie schon während des Krieges, viele Aktivisten, die sich für eine andere Politik eingesetzt haben. das Land verlassen.

Die Opposition bietet ein desolates Bild. Ist eine Bündelung der Kräfte realistisch?

Es gibt zwei oppositionelle Blöcke, den Rat für Veränderungen und den Rat für demokratische Parteien. Diese beiden Koalitionen sind bereits im letzten Jahr entstanden. Eine Vereinigung der Opposition, von den regierungsunabhängigen Organisationen bis hin zu den Parteien, ist wichtig. Denn auf der anderen Seite stehen Miloševic und Šešelj. Und gerade Šešelj, der eine radikale Option vertritt, hat jetzt durch den Krieg noch an Anhängern gewonnen.

Und wo steht Vuk Draskovic?

Der zählt nicht zur Opposition. Es ist ein Opportunist der Macht.

Welche Chancen bestehen für eine Demokratisierung Serbiens?

Die Demokratisierung muß von innen kommen. Man braucht sich nur die Republika Srpska anzusehen. Auch dort ist der Versuch, Demokratie von außen überzustülpen, bisher gescheitert. Was Serbien angeht, so müssen zuerst Wahlen durchgeführt werden. Aber das ist nur ein erster Schritt. Denn wenn nur die Personen an der Machtspitze ausgewechselt werden, wird sich nicht viel verändern. Auch das ganze Wertesystem muß verändert werden, das ist ruiniert. Dazu gehört auch, daß alle Organisationen, die am gesellschaftlichen Leben beteiligt sind, wie NGOs oder Gewerkschaften, in ihren spezifischen Bereichen für die Demokratisierung arbeiten.

Was sind denn die ersten, wichtigsten Veränderungen?

Mit das Wichtigste ist die Dezentralisierung. In den letzten Jahren hat Miloševic alles getan, um die Macht in Belgrad zu zentralisieren. Dann muß das Land nach Westen hin geöffnet werden, um unsere Isolierung zu durchbrechen. Zentrale Bedeutung hat der Kampf gegen den Nationalismus und für Menschen- und Minderheitenrechte. Diese Rechte, die laut Verfassung garantiert werden, müssen durchgesetzt werden, damit Serbien als multikulturelle Gesellschaft wiederauflebt. Menschen nichtserbischer Nationalität sind unsere Nachbarn, wir müssen mit ihnen leben, es gibt keinen anderen Weg.

Welche Rolle soll bei dem Prozeß der Demokratisierung die Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit spielen. Zoran Djindjic vertritt ja die These, daß es noch zu früh sei, um diese Diskussion jetzt zu führen. Teilen Sie seine Ansicht?

Wenn ich das täte, wäre ich Mitglied in Djindjic' Partei. Die Frage nach der Verantwortung spielt eine ganz wichtige Rolle im Prozeß der Demokratisierung, und deshalb müssen wir uns jetzt mit ihr beschäftigen. Die Sozialdemokratische Union, in der ich Mitglied bin, hat das als eine der ersten getan. Auch verschiedene NGOs haben das öffentlich diskutiert. Da das durch die Medien nicht nach außen getragen wurde, blieb das alles auf einen kleinen Kreis beschränkt.

Sind denn die Menschen ihrer Meinung nach überhaupt offen für so eine Diskussion?

Sie werden diese Diskussion akzeptieren. Wir haben mit unserer Anti-Kriegs-Kampagne 140 Städte erreicht, Flugblätter verteilt und viel mit den Menschen geredet. Da haben wir verstanden, daß es in Serbien eine erstgemeinte Reue gibt wegen dem, was passiert ist. Das bedeutet aber nicht, daß jeder einzelne schuld ist. Eine kollektive Verantwortung für die Verbrechen gibt es nicht. In dem Moment, wo wir anfangen, den Menschen zu erklären, daß es ihnen ganz persönlich schlechtgeht aufgrund der Politik von Slobodan Miloševic, wenn sie diesen Zusammenhang verstehen, werden sie begreifen, daß es auch andere Opfer dieser Politik gibt. Interview: Barbara Oertel