Abschied in Wehmut

Gemütlich war sie, die fußläufige Hauptstadt Bonn. Die Politik war so übersichtlich wie die Stadt selbst, in der man auf Schritt und Tritt über Regierungsgebäude und Bundespolitker stolperte. In Berlin wird es vorbei sein mit der rheinischen Nähe, und Frikadellen wird man nun Buletten nennen müssen. Ein letzter Spaziergang  ■ Von Markus Franz

Es ist einer der angenehmste Orte in Bonn, jedenfalls für den SPD-Bundesgeschäftsführer Ottmar Schreiner und den FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle. Auf dem Dach eines sechstöckigen Gebäudes gegenüber der Oper befindet sich eine Sauna. Die großen Fenster bieten einen Ausblick auf den Rhein, auf das Abgeordnetenhochhaus Langer Eugen, auf das ockerfarbene Gästehaus der Bundesregierung auf dem Petersberg und den Drachenfels, wo Siegfried den Lindwurm erschlug. Und wenn er so schön glitzert, der Rhein, dann kommt er einem wie eine Startbahn vor, die Gedanken rasen dahin, heben ab, und plötzlich ist man in Afrika oder sonstwo.

Ottmar Schreiner und Guido Westerwelle mögen diese Stätte der Besinnung, und sie genießen sie gern gemeinsam. Wenn es sich irgendwie einrichten läßt, jeden Sonntag abend. In Berlin werden die beiden Politiker wohl nicht mehr zusammen in die Sauna gehen. In der großen Stadt verläuft sich vieles. „Die rheinische Nähe, die fußläufige Hauptstadt wird fehlen“, bedauert Westerwelle.

Ein allerletzter Spaziergang durch die Bundeshauptstadt Bonn muß natürlich am Rhein entlangführen, der das Regierungsviertel nach einer Seite hin so trefflich abschirmt. Er ist Teil der Bannmeile, die das Regierungsviertel vor unwünschten Besuchern schützen soll.

Im Oktober 1997 legte ein Schiff von Greenpeace am Regierungsviertel an, mit Fässern voll von radioaktiv verseuchtem Sand aus La Hague. Ein klarer Fall von Verletzung der Bannmeile. Die Umweltaktivisten forderten, daß Umweltministerin Angela Merkel die Fässer entgegennehmen solle. Statt dessen kamen Polizei und Feuerwehr. Zum Berliner Reichstagsgebäude wird Greenpeace nicht so leicht vordringen können. Dafür wird die Bannmeilenregelung gelockert.

Der Spaziergang kann an der Oper beginnen. Zu Fuß selbstverständlich, das sind ja alles keine Entfernungen hier. Zwei Querstraßen weiter rheinaufwärts Richtung Regierungsviertel liegt der Universitätsclub. Ein lichtdurchflutetes Gebäude im Grünen, in dem die SPD seinerzeit mit ihrem Fraktionsvorsitzenden Rudolf Scharping vor Publikum Zukunftsdebatten führte. So war es unter Scharping. Es wurde schon deshalb nicht über die Neue Mitte geredet, weil es noch nicht vorrangig ums Verkaufen von Politik ging. Einmal stritten sich dort Scharping und Oskar Lafontaine darum, wer die Idee gehabt hatte, den zwischen ihnen auf dem Podium sitzenden Helmut Schmidt einzuladen.

Wieder zwei Querstraßen weiter, vorbei am Weinhaus „Zur Lese“ – ach ja, hier hatte doch Ottmar Schreiner die vermeintlich künftige SPD-Parteisprecherin Dörte Caspary der Presse vorgestellt, die sich später als ehemalige Stasi-Mitarbeiterin herausstellte –, jedenfalls liegt rechterhand in der Schaumburg-Lippe-Straße die Landesvertretung Bremen.

Weißes Herrenhaus, großer Garten, Kellerbar in gediegenem Seemannslook. Hausherr ist Bremens sozialdemokratischer Bürgermeister Henning Scherf; ein Politiker, so gefühlvoll, so aufrichtig, so emotional, wie man sich ihn auch für Bonn gewünscht hätte. Hier trifft man sich, wie in allen Landesvertretungen, regelmäßig zum Hintergrundgespräch. Teilnehmer sind viele sozialdemokratische Journalisten. Darunter auch einige, die mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Peter Struck Mittagessen zu gehen pflegen.

So ein Hintergrundgespräch läuft meist folgendermaßen ab: „Sach mal“, sagen die sozialdemokratischen Journalisten zu den sozialdemokratischen Politikern, „das war aber gar nicht gut, wie Ihr das gemacht habt. Macht doch ...“ Einige von diesen liebenswerten journalistischen Urviechern ziehen nicht mit nach Berlin. Der Anteil der jugendlichen Haifische wird dort sicher größer sein.

Langsam nähert man sich dem Bundespräsidialamt – immer den Rhein im Blick und immer das herrschaftliche Gästehaus der Bundesregierung droben auf einem der sanftgeschwungenen Hügel des „Siebengebirges“. Ja, das Gästehaus. Theoretisch genügten zwei Polizisten, um die Staatsgäste vor ungebetenem Besuch zu schützen. Einen für die einzige Zufahrt und einen für den Waldweg, der sich zum Berg hinaufschlängelt.

Kanzlergattin Hannelore Kohl zelebrierte hier einmal eine Weihnachtsfeier für Soldaten und deren Familien. „Wer war über das Jahr hinweg lieb?“ fragte sie. Und weil nur einige Kinder die Hände reckten und nicht die Soldaten, fragte sie noch einmal, strenger: „Wer glaubt, daß er sich in diesem Jahr ehrlich und anständig betragen hat? Hände hoch!“ Nun hoben auch einige Soldaten die Hand.

Vorbei, vorbei, das Gästehaus ist jetzt für eine Mark zu haben. Aber weil die Unterhaltskosten so groß sind, findet sich kein Käufer.

Häufig stehen Polizisten auf dem Rheinuferweg, weil wieder einmal mit lautem Getöse ein Hubschrauber aus dem Garten des Bundespräsidialamtes aufsteigt. Hier hat Helmut Kohl an seinem letzten Tag als Bundeskanzler das „Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland“ von Bundespräsident Roman Herzog in Empfang genommen. Kohl sprach: „Man muß in der Politik Fortune haben. Wenn die Strömungen der Geschichte, das große Bild, sich nicht fügen, hat man umsonst sich bewegt.“ Was wird wohl sein Amtsnachfolger Gerhard Schröder bei seinem Abschied in Berlin sagen? Wahrscheinlich: „Ich habe verstanden.“

Kleine persönliche Anmerkung: In drei Jahren Bonn habe ich als politischer Korrespondent kein einziges Wort mit Helmut Kohl gewechselt. Das kommt vor bei großen Politikern und kleinen Zeitungen.

Es geht weiter am Rhein entlang. Ach sieh mal einer an, wer sitzt denn da? Ein Finanzexperte der Regierung und eine Journalistin von einem Nachrichtenmagazin auf einer Bank. Sie schlecken Eis und stecken die Köpfe zusammen. Mal am Montag nachlesen.

Ein paar Schritte weiter liegt der Schiffsanleger, von dem aus Politiker und Journalisten des Sommers gemeinsame Ausflüge unternehmen. Auf der letzten, der allerletzten Tour, kurz nach der verlorenen Europawahl, schmeichelte Bundeskanzler Schröder den Parteirechten vom Seeheimer Kreis, er sehe sie als Garant für eine stabile Regierung. Die SPD müsse jetzt verstärkt auf die Wirtschaft setzen. Wer glaube, man könne in erheblichen Maße Ökosteuern anheben, der irre.

Die Journalisten schrieben mit, zwei Tage später stand's in den Zeitungen. Die Ökosteuer blieb hinter den Erwartungen zurück. So wurde Politik gemacht in Bonn.

In Berlin machen sie vielleicht Bustouren in die Großstadtdrogenszene, Fixer inspizieren, weil doch in der neuen Hauptstadt die Politiker endlich das wahre Leben kennenlernen sollen.

Da, wo es vom Rhein aus rechts hoch zum Langen Eugen geht, kann man sich mit dem Nötigsten für das leibliche Wohl versorgen. Dort hat zum Beispiel seit zehn Jahren der gebürtige Libanese Mahmaoud Moraa seinen Imbiß. „Scheiß Entscheidung!“ grummelt er über den Umzugsbeschluß. Was er denn in Berlin solle? „Ist doch schön hier am Rhein!“

Leckere Würstchen gibt's im Kiosk gegenüber dem Bundesrat. Auch der wird bleiben, weil ja schließlich die Deutsche Welle kommt. Die Frikadellen sind auch nicht schlecht. In Berlin werden derlei Fleischklöpse dann Buletten genannt werden müssen.

Gegenüber dem Langen Eugen liegt das Wasserwerk, das Parlamentsgebäude bis 1991. In der vergangenen Woche traten dort zum letzten Mal die „Wasserwerker“ auf, eine Kabarettgruppe von Abgeordneten. Ja, das gab's. Das gab's in Bonn und wird's in Berlin erst mal nicht geben. Bei ihrem letzten Auftritt, bei dem auch Altkanzler Helmut Kohl im Publikum saß, simulierten die Wasserwerker eine Ökosteuer für Fahrradfahrer. Klang sehr authentisch.

Wenige Schritte weiter, da, wo es rechts abgeht zum neuen Bundestag, der nur neun Jahre im Einsatz war, sowie zum benachbarten Bundesrat, liegt ein ganz besonders schönes Gebäude. Es ist eine alte Villa, und darin befindet sich das Redaktionsbüro der taz. Ja, ja, ruhig neidisch werden. In der neuen Hauptstadt werden wir in einem kümmerlichen Büro Unter den Linden sitzen. In Ostberlin und ossimäßig. Kleine persönliche Anmerkung: In meinen Bonner Jahren konnte ich das Wort Ossi aus meinem Sprachschatz streichen. Hier interessiert sich kein Wessi für Ostdeutschland.

Apropos, noch eine kleine persönliche Anmerkung: Nach dreieinhalb Jahren Ostdeutschland, den Potsdamer Landtag noch in der Nase, kam ich an meinem ersten Bonner Tag in das Bundestagsrestaurant. Große Fenster, knallbunt angemalte Decken, alles so hell und freundlich und die Kellner zwar etwas schleimig, aber ansonsten perfekt. Hach, da fühlte ich mich auf Anhieb wohl. Der grüne Bundesumweltminister Jürgen Trittin findet hingegen das „Catering“ im Reichstag viel besser. Dennoch: Es tat schon gut, diese künstliche, heile Welt in Bonn.