Abschied vom Bundesdorf

■  Zum letzten Mal versammeln sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestags in Bonn: Ex-Kanzler Kohl liest der rot-grünen Regierung die Leviten und erhält dafür ein großes Lob von Vizepräsidentin Antje Vollmer

Bonn (taz) – Fotografierende Abgeordnete im Plenarsaal, Worte wie „Melancholie“ und „Trauer“ im Minutentakt und der Abschied eines allseits geschätzen Bundespräsidenten – am letzten Sitzungstag des Bundestags in Bonn fehlte es nicht an Stimmungen.

Nach einem Dreivierteljahr der Kanzlerschaft Gerhard Schröders war auch die Vorfreude auf die Rede von Altbundeskanzler Helmut Kohl groß. Noch einmal „Bau des Hauses Europa“, noch einmal Pathos à la „... ist die Rückkehr von Parlament und Regierung nach Berlin die Krönung des jahrzehntelangen Strebens der Deutschen nach Einigkeit und Recht und Freiheit“.

Aber Kohl teilte in der Debatte mit dem Thema „50 Jahre Demokratie – Dank an Bonn“ auch aus. Ohne seinen Nachfolger Gerhard Schröder direkt anzusprechen, gab er ihm mehrere Botschaften mit auf den Weg: „Bewahren wir uns die einzigartige Freundschaft mit unseren französischen Nachbarn.“ Und: Der Beitritt Polens zur Nato und zur EU sei auch „zutiefst im Interesse der Deutschen“. Unter besonderm Jubel der eigenen Reihen stichelte Kohl: Viele suchten heutzutage nach einem dritten Weg in der Politik. Die Lösung liege in der Politik von Ludwig Erhard. „Das ist die Mitte, die manche vergeblich suchen werden.“ Hinterher lobte Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne), Kohl habe eine Rede gehalten „wie ein Manifest“. Er sei so etwas wie die „Verkörperung der Bonner Republik“.

Ein Motiv durchzog die Reden aller Abgeordneten: daß Berlin in der Kontinuität des bescheidenen Bonn bleiben solle, eines Ortes ohne Pomp, Prunk, Pathos. Eines Ortes, „in dem von nichts und niemandem eine Bedrohung ausging“, (Wolfgang Clement, SPD), der „der Welt Vertrauen einflößte“ (Guido Westerwelle, FDP). Mehrere Redner rieben sich an Schröders Wahlkampfbegriff von der „Berliner Republik“. Westerwelle befand: Wer die Berliner Republik ausrufe, stelle die Grundkoordinaten der erfolgreichen Bonner Politik in Frage. Kohl fand es gar „dümmlich“, von einer Bonner und einer Berliner Republik zu reden. Clement stellte fest: „Wir bleiben hier“ und wollte das so verstanden wissen, daß die Politik in Bonn verwurzelt bleibe.

Selten haben Politiker im Bundestag so offen über ihre Befindlichkeiten geredet und Lobpreisungen ausgesprochen: Bundestagspräsident Thierse meinte: „Ich habe noch immer ein Grundgefühl des Glücks, daß deutsche Geschichte endlich mal gut ausgehen könnte. Und dieses Gefühl verbinde ich auch mit Bonn.“ Antje Vollmer sprach von einer „atemberaubenden Erfolgs- und Glücksgeschichte“.

An Sätzen für die Ewigkeit versuchte sich nach seiner gestrigen Vereidigung der neue Bundespräsident Johannes Rau. Er halte „den Egoismus des Gegenwärtigen zu Lasten der Zukunft“ für nicht erlaubt. Und: „Toleranz ist kein Schwächeanfall der Demokratie, sondern ihr Lebensinhalt.“ Rau setzte sich in seiner Rede für mehr Arbeitsplätze, eine fortschrittliche Bildungspolitik sowie mehr Unterstützung für Ostdeutschland ein und versprach, ein Sprachrohr für Minderheiten zu sein. Den Lacher des Tages erntete der scheidende Bundespräsident Roman Herzog. Er sei 1995 als bestangezogener Politiker ausgezeichnet worden. „Jetzt“, dabei wandte er sich zu Gerhard Schröder, „bin ich nach dem Bundeskanzler nur der Zweite.“ Markus Franz

Tagesthema Seiten 2 und 3