Die Wahrheit der Fotos

Die Erfolgsstory der Wehrmachtsausstellung war von Anfang an von Fälschungsvorwürfen begleitet. Über die Verteidigung ihrer Dokumentation sind die Ausstellungsmacher vom Hamburger Institut für Sozialforschung selbst zu Spezialisten geworden. Auf einer Tagung diskutierten sie jetzt Probleme der Archivierung und Nutzung der Fotos und schlugen eine Charta für den Umgang mit ihnen vor Von Christian Semler

Für Erfolg oder Scheitern der Ausstellung „Vernichtungskrieg, Verbrechen der Wehrmacht 1941–1945“ war von Anfang an die Qualität der Fotos entscheidend, die die Ausstellungsmacher des Hamburger Instituts für Sozialforschung zusammentrugen. Es gelang dem Team um Hannes Heer, jenseits des offiziellen Fotopropagandamaterials der Nazis, das leicht greifbar in deutschen Archiven lag, eine große Zahl von Aufnahmen aufzutreiben, die deutsche Soldaten von Massakern, von Deportationen, von der Zwangsarbeit jüdischer und anderer „Untermenschen“ im besetzten Europa geschossen hatten. Fotos dieser Art hatten sich ursprünglich bei gefallenen oder gefangengenommenen Wehrmachtssoldaten gefunden, von dort gelangten sie in Archive und Gedenkstätten Ost- und Südosteuropas. Manche tauchten auch aus privaten Beständen auf. Sie waren oft unbeschriftet, verrieten also wenig über den Ort und die Umstände des Verbrechens. Eine umfangreiche, oft frustrierende Arbeit der historischen Einordnung und Lokalisierung stand an. Ihr unterzogen sich die Ausstellungsmacher auf eineWeise, die den Vergleich mit anerkannten Sammlungen keineswegs zu scheuen braucht.

Die Hamburger Wissenschaftler wollten historische Fotos nicht nur als illustrierendes Beiwerk ihrer Thesen, sondern als beweiskräftiges Material. Sie gingen vom Bild ebenso aus wie vom Text. Ihnen kam es darauf an, Täter als Wehrmachtsangehörige zu identifizieren und gleichzeitig die Mentalität derer zu dokumentieren, die die Fotos gemacht hatten. Genau diese beiden Intentionen brachten die Ausstellung ins Kreuzfeuer. Denn wenn es den Verteidigern der „deutschen Soldatenehre“ gelang, falsche Zuschreibungen in größerer Zahl oder gar Fälschungen aufzudecken, war es um die Glaubwürdigkeit des Unternehmens von Hannes Heer geschehen. Es gereicht dem Hamburger Institut zur nicht nur wissenschaftlichen Ehre, daß sie jeden Vorwurf skrupulös untersuchten, neues Material zutage förderten, ihren Blick schärften für das mühsame Geschäft wie für die Fallstricke der Beschäftigung mit historischem Fotomaterial.

So wurden sie, die als Außenseiter begonnen hatten, zu Vorreitern kritischen wie selbstkritischen Bewußtseins in der Zunft der Fotojäger und Sammler. Nur konsequent, daß sie vergangene Woche zu einer Konferenz einluden über „Das Photo als historische Quelle“. Und viele kamen: Achivare, Historiker, Filmwissenschaftler, Museumsleute, Pädagogen, sogar ein leibhaftiger Kriegsberichterstatter. Andere fehlten: das militärische Forschungsamt der Bundeswehr zum Beispiel.

Die Konferenz zeigte, in welchem Umfang sich die Gewichte der Auseinandersetzung über die Fotodokumentation von Wehrmachtsverbrechen in den letzten vier Jahren verschoben haben. Hannes Heer und seine Crew sind zur Offensive übergegangen. Jetzt sind sie es, die den oft jämmerlichen Zustand der historischen Fotodokumente in Museen und Archiven beklagen; die – fast nebenbei – auf die Fülle falscher Datierungen und unzutreffender Bildbeschreibungen verweisen; und die jetzt sogar unter dem Beifall der Archivare eine Art Charta über den Umgang mit Fotografien etablieren wollen, zu der sie auf der Konferenz einen Entwurf vorlegten.

Fragen der Provenienz spielen dabei eine herausragende Rolle. Denn was auf einem Bild wirklich zu sehen ist, erschließt sich oft nur von der Beschriftung her und kann schlüssig erst im Kontext beantwortet werden. Daher die Notwendigkeit, Originalbestände möglichst in ihrem ursprünglichen Zusammenhang zu belassen, bei Kopien zu dokumentieren, wer wann wo fotografiert hat. Dem Archivar fallen hier detektivische Aufgaben zu. Kontextualisierung bedeutet aber auch, parallele Bilddokumentationen und Zeugnisse von Tatzeugen zu berücksichtigen. Oft wurden von professionellen Fotografen Serien aufgenommen, die später auseinandergerissen, nur im Zusammenhang den wirklichen Ablauf dokumentieren.

Zwei Beispiele erwiesen sich auf der Konferenz als eindrucksvoll. In einem Prozeß war den Ausstellungsmachern vorgeworfen worden, sie hätten Fotos aus dem weißrussischen Mogilew verwandt, wo Menschen mit nachträglich hineingefälschten Judensternen versehen worden seien, um ein Ghettobild vorzutäuschen. Jetzt gelang es, Fotoserien auszumachen, aus denen hervorgeht, daß die Mogilewer Juden sich selbst Judensterne anfertigen und an der Kleidung befestigen mußten. Ein Doppel dieser Serie lag in Ostberlin, so daß Fälscher auch auf dem Territorium der DDR hätten tätig werden müssen.

Das zweite Beispiel ist komplizierter und betrifft Aufnahmen getöteter Menschen im ukrainischen Zloczow nach der Eroberung des Städtchens durch die Wehrmacht im Sommer 1941. Die Ausstellungsmacher hatten die Fotos nicht genau lokalisieren können und veröffentlichten drei von ihnen unter der Rubrik „Genickschüsse“ in der Ausstellung. Daraufhin machte der polnisch-deutsche Historiker Bogdan Musial und nach ihm der Spiegel geltend, es handle sich bei den Fotos um Leichen von polnischen Bürgern, die vom Geheimdienst des sowjetischen Innenministeriums (NKWD) kurz vor der Flucht vor den deutschen Truppen erschossen worden waren. Tatsächlich hatten solche Massenerschießungen in mehreren Städten des vormals polnischen Galizien stattgefunden. Die Recherchen des Hamburger Instituts ergaben, daß Juden aus Zloczow in großer Zahl zur Exhumierung der NKWD-Opfer gezwungen und zum Teil noch während der Arbeit erschossen wurden.

Dieser Sachverhalt wurde auch durch die Aussage eines Opfers, Shlomo Wolkowicz, bestätigt, der sein Leben dem Umstand verdankte, daß er in einem unbewachten Augenblick in die für die Erschossenen bestimmte Grube sprang. Verwandte des in Zloczow stationierten Wehrmachtsoffiziers Otto Korfes übergaben dem Hamburger Institut Fotos aus Alben, in denen Korfes Frau die dort abgebildeten Leichen als Opfer der deutschen Erschiessungen kennzeichnete. Nach dieser historischen Einordnung erwies es sich, daß die Fotos Opfer des NKWD wie der Wehrmacht zeigten. Ihre Aufnahme in die Ausstellung war berechtigt, bedarf allerdings zukünftig eines genauen, qualifizierenden Textes.

Was waren das für Menschen, die in großer Zahl Massaker, Hinrichtungen und andere Verbrechen fotografierten, die ihre eigenen Leute begingen? Profis der Propagandakompanien, SS- und Polizeifotografen, die in Motiven, Bildausschnitt (und späterer Betextung) genauen Anweisungen unterlagen. Fotoamateure, die für sich, ihre Kameraden und Vorgesetzten regelmäßig in Aktion traten. Schließlich das riesige Heer der Knipser. Was trieb die Amateure und Gelegenheitsfotografen an? Der Wunsch, später sagen zu können: „Ich war dabei.“ Zehn Prozent der deutschen Soldaten hatten eine Kamera. Und obwohl schon bald nach Beginn des Rußlandfeldzugs ein Verbot erfolgte, Hinrichtungen zu fotografieren, wurde dieser Befehl systematisch und mit Billigung der Vorgesetzten mißachtet. Wo die Bilder beschriftet waren, wiederholte der Text meist die Stereotype des Herrenmenschentums. In wenigen Fällen haben Profis wie Amateure Beweissicherung betrieben. Für den Fall, daß der Schrecken je ein Ende nähme.

Wie kann, wie muß man historische Fotos lesen? Wie ein Kriminalist oder ein Kunsthistoriker? Alle Lesarten hängen mit dem technischen Verfahren zusammen, das auf dem Negativ die „Spur der Wirklichkeit“ (Cornelia Brink) hinterläßt. Aber diese Spur ist trügerisch, wie überhaupt die Vorstellung von Authentizität, von „Wahrheit“, die sich mit der Fotografie verbindet. Denn diese Spur ist kulturell kodiert, abhängig von den Absichten und den Verfahrensweisen der Fotografen wie der Betrachter. Die „Wahrheit“ eines historischen Fotos erschließt sich erst im erweiterten Blick auf die politischen, sozialpsychologischen, nicht zuletzt auch ästhetischen „Umstände“, unter denen es entstand.

Auch für die heutigen Betrachter der Fotos von Terror und Massenmord ist es schwer, der Medusa ins Gesicht zu sehen. Wir flüchten uns in Bilder des Schreckens und Mitleids, wie das Foto des kleinen Jungen mit dem Judenstern und den erhobenen Händen aus dem Warschauer Ghetto. Solche Fotos sind zu Ikonen verdichtet. Sie lassen das Entsetzen erahnen, zeigen es aber nicht. Zur „Ikone der Vernichtung“ ist das Foto der Hamburger Ausstellung geworden, das im serbischen Pancevo einen Offizier zeigt, der vor einer gaffenden Soldatenmenge einem exekutierten Opfer den Gnadenschuß gibt. Ist das Bedürfnis nach solchen Ikonen legitim? Oder bestreitet es den Opfern noch heute ihre Würde? Wäre es nicht angemessen, den Opfern, wo immer es geht, ihre Identität zurückzugeben?

Solche Ansätze blieben auf der Konferenz nicht ohne Kritik, wurden als Anmaßung angeprangert. Darauf antwortete der Ausstellungsmacher Walter Manoschek. Er hat einen Brief des Serben Slobodan Mircic erhalten, der seinen Vater auf einem Foto des Massakers von Pancevo auf dem Weg zur Hinrichtung erkannte. Für ihn, schrieb der heute 76jährige Sohn, sei die Vergangenheit nun abgeschlossen, der Krieg endlich beendet.

Christian Semler, 60, ist seit 1989 Essayist und Kommentator der taz in Berlin