Korsettagen, Ost und West

Die Deutschen wußten nach ihrer Niederlage als Nationalsozialisten sich nur mit korrektem Benehmen über inneres und äußeres Chaos hinwegzuhelfen. Ende der sechziger Jahre war plötzlich Lockerheit angesagt. Takt und Ton gerieten aus dem Tritt. Teil XXIV der Serie „50 Jahre neues Deutschland“, eine Geschichte des Nachkriegs und der Nachwende Von Andreas Hergeth

Ein normaler Schultag vor über fünfzig Jahren. Vor den Kindern stehen die Lehrer, Nazis einst. Und sind irritiert, wenn die Schüler, gelernt ist gelernt, zur Begrüßung ihnen ein „Heil Hitler“ zurufen. Den meisten Pädagogen war das peinlich – die alten Zeiten wollten sie so schnell wie möglich verdrängen und nicht immer und immer wieder an sie erinnert werden.

Man nannte sie später die skeptische Generation, Männer und Frauen, die sich betrogen fühlten von Ideologien und die die Schnauze voll hatten von Politik. Erzogen im Nationalsozialismus, dem Führer gegenüber gläubig. Jetzt, ob im sozialistischen oder demokratischen Deutschland, versprach nur eine Technik, moralisch über die Runden zu kommen: Etikette, also Benimm auf Teufel komm raus.

So mußten die Schüler aufspringen, wenn der Pauker den Raum betrat und laut ein „Guten Morgen“ schmettern. Ein bis weit in die sechziger Jahre hinein übliches Begrüßungsritual in West und Ost. Die fünfziger Jahre waren eine Zeit, in der man sich auf preußische Tugenden zurückzog. Hüben wie drüben. Das war für viele Deutsche überlebenswichtig in den Jahren des Wiederaufbaus: Mit Disziplin und Ordnung galt es, inneres wie äußeres Chaos zu bewältigen.

Das öffentliche Bild Ende der vierziger Jahre hingegen war noch von Männern und Frauen bestimmt, die meist in alten Kleidern daherkamen, Klamotten, oft geändert und geflickt, aus Uniformen geschneidert. Prägend war die Trümmerfrau in Kittelschürze und mit Kopftuch. Etikette, Moral und Anstand? Im Kampf ums Überleben spielte das eine zunächst nur untergeordnete Rolle.

Doch die Zeiten änderten sich. Ost und West gingen getrennte Wege. Wirtschaftswunder hier, Lebensmittelmarken bis 1958 und Mangelwirtschaft bis zuletzt da. Millionen Vertriebene brachten zwar kaum Hab und Gut mit in die neue Heimat, dafür aber eigene Verhaltensmuster und Durchsetzungsstrategien, die die nachkriegsdeutsche Gesellschaft vielleicht nachhaltiger als das durchlebte Elend veränderten.

Gerade in Ostdeutschland waren es Vertriebene und Frauen, die notgedrungen die Funktionen und Posten einnahmen, die sie zu den Gründereltern der DDR machten: eine Aufsteigergesellschaft für die Flakhelfergeneration. Mit einem spezifischen ostdeutschen Befund: Die enge Bindung an das Kollektiv und die Arbeitsstätte – als ein zweites Zuhause.

Andererseits brachte das Einparteiensystem mit dem permanenten Genossen-Du, mit der Manier, jeden Soldaten, Polizisten oder Direktor in der Anrede zum „Genossen“ zu machen, ein entkrampftes Element im Umgang unter seinesgleichen. Wer den Brigadier oder den Parteisekretär duzte, hatte nicht viel zu befürchten, von der Stasi mal abgesehen.

Ähnliches gilt für DDR-typische Anreden wie „Jugendfreund“ und „Sportsfreund“. „Herr“ oder „Frau“ kam nur in amtlichen Briefen vor, stets gekoppelt mit dem „sozialistischen Gruß“. So etwas wie eine „Dame“ gab es nur im Film oder im privaten Raum. Gleiches gilt für den Handkuß. Verpönt, weil westlich und dekadent. Ansonsten schüttelte man sich, wie unter Arbeitern üblich, die Hände. Immer und überall. Die Fronten waren immer klar. Es konnte also keine Mißverständnisse, nie den falschen Ton geben.

Das Verhaltenskorsett war geschnürt, wenn auch locker. Was auch an der Abwesenheit von großbürgerlichen Schichten lag. Dies ließ eine Alltagskultur entstehen, die stark von den Traditionen des Arbeitermilieus und der kleinbürgerlicher Schichten bestimmt war: Offenheit, auch im Sexuellen, Lockerheit und Unbefangenheit im Umgang mit dem Anderen. Im Zweifelsfall waren alle Kumpels. Gekoppelt mit Obrigkeitshörigkeit und Scheu, ja Respekt, doch keiner Angst vor der Staatsmacht – man war ja mit den Genossen Volkspolizisten per Du. Der DDR-Bürger hatte Ehrfurcht vor Uniformen, aber weniger als der BRD-Bürger. Weil er sie zugleich zu veräppeln wußte.

Folgerichtig bedurfte es keiner Benimmkurse. Wenn überhaupt, gab es Tanzkurse, und die boten vor allem die Möglichkeit, Partnerschaften anzubahnen. Im Westen war das anders. Das konnte man schon am ersten Mann im Staat sehen. Konrad Adenauer ließ sich gern im edlen schwarzen Anzug, mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte ablichten. Sein Kanzlernachfolger, Ludwig Erhard, etablierte sogar die dicke Zigarre als Symbol erfolgreichen Daseins im kapitalistischen System. Und ein Signal des Genusses nach getaner Arbeit. Erhard, rosig und feist, im edlen Tuch, Manschettenknöpfe: Seht, ich habe Manieren. Das leibhaftige Wirtschaftswunder.

Wie gegensätzlich die Garde der drögen DDR-Berufsfunktionäre. Walter Ulbricht, mit Spitzbart und sächsischer Fistelstimme – immer gut für einen Spott. Und genoß doch höheres Ansehen als jeder Westpolitiker. War in der DDR die Herkunft aus dem Arbeiter- und Bauernmilieu aufstiegsfördernd, war in der Bundesrepublik das genaue Gegenteil der Fall. Das Erlernen von Tango und Walzer war Nebensache, was in Tanzschulen gelehrt wurde, war, wie man sich bei einem Empfang korrekt verhält, wie man gekonnt Konversation betreibt, die richtige Besteckfolge, der passende Anzug – die vielen kleinen und bedeutsamen Gesten waren im Westen wichtiger als im Osten.

Dieses Korsett aus distinguiertem Gehabe zertrümmerte die Achtundsechziger-Generation. Was für eine Provokation: Jeans, Parka, lange Haare – selbst im Theater. Unkonventionelle Begrüßungsformel, sexuelle Freiheiten und dann auch noch die Mißachtung von Autoritäten – der Student duzt den Professor. Ältere verstanden die Welt nicht mehr.

Jahre später, 1983. Die Grünen erstmals im Bundestag. Petra Kelly und Joschka Fischer sitzen beieinander, salopp gekleidet. Er trägt Pulli und Sakko ohne Schlips (dazu wohl die vielbeschriebenen Turnschuhe). Sie hat eine helle Bluse gewählt. Nichts mit obligatorischem Kostüm oder Anzug für die Damen und Herren Abgeordneten. Auch das hatte es zuvor nicht gegeben: Stricken im Bundestag. Zottelige Bärte. Das kam damals einer Provokation gleich. Und hatte zur Botschaft, daß es da draußen, jenseits der parlamentarischen Strukturen, noch mehr Leute wie die grünen Abgeordneten gibt.

Und als Helmut Kohl regierte, vermittelte der Pfälzer das Bild eines uneingeschränkten Herrschers mit Sinn für große Gesten. Der dicke Deutsche nahm den zierlichen Franzosen bei der Hand, als Kohl und Frankreichs Staatspräsident Francois Mitterand gemeinsam 1984 in Verdun der Schlachten des Ersten Weltkrieges gedachten. Oder Jahre zuvor: Der Sozialdemokrat Willi Brandt sank 1970 in Polens Hauptstadt am Mahnmal für das Warschauer Ghetto auf die Knie.

Sind von einem Mann wie Gerhard Schröder solche Gesten zu erwarten? Kaum. Denn der Bundeskanzler gehört einer anderen Politikergeneration an. Einer emotionslosen, die zwar in Rhetorikkursen lernte, Worthülsen zu produzieren, aber anscheinend vor Gemütsregungen gewarnt wurde. Moderne Berufspolitiker. Geleckt. Langweilig. Eigentlich wie zu DDR-Zeiten.

Die sind seit fast zehn Jahren Geschichte. Nun heißt es auch im Osten, in Seminaren die geschliffene Rede zu üben. Erprobte Gesten und Rituale funktionieren nicht mehr. Wem gibt man wann die Hand? Wann paßt „Guten Tag“, wann reicht ein „Hallo“?

Schwierige Fragen. Die aber auch den gemeinen Westler quälen: Wann umarmt, wann gibt man Küßchen? Siezen, Duzen – immer noch so viele Fragen, trotz Achtundsechzig. Trotz Sprengung des Korsetts – das nicht nur einengt, sondern auch den Umgang mit Fremden leichter macht.

Etikette der großbürgerlichen Art hatte fünfzig Jahre lang im Westen Konjunktur. Wer Stil hat und Geld, zeigt das auch heute selbstbewußt. Maßschuhe für zweitausend Mark sind wieder angesagt – und sie sind doch nicht automatisch Ausweis von Benimm. Punks oder ökogekleidete Leute sieht man kaum noch. Heutige Jungmenschen ziehen sich mehrheitlich lieber schick und teuer und damit irgendwie gleich an – soll noch mal einer behaupten, die DDR war uniformiert.

Begrüßungsrituale gibt es so viele, wie es Subkulturen gibt. Auf dem öffentlichen Parkett aber, von Politik, Wirtschaft und Medien bestimmt, geht der Trend deutlich zur Vereinheitlichung. Wer trendy ist, gibt zwei (oder drei?) Küßchen. Wer korrekt ist, streckt die Hand zum Gruß aus.

Wer locker erscheinen will, sagt „Hallo“, im Geschäft lieber „Guten Tag“. Kleiderfragen werden bestimmender. Und immer schön regelmäßig zum Friseur gehen.

Die laxen Umgangsformen, die vor dreißig Jahren in die guten Stuben der Westdeutschen einbrachen, verflüchtigen sich zusehends. Back zu the Roots? Schon wird wieder mehrheitlich gesiezt an den Universitäten. Die muffigen fünfziger Jahre scheinen Urständ zu feiern: In Ludwigslust, einer Kreisstadt in Mecklenburg, wurde nach der Wende ein Mann zum Bürgermeister gewählt, der zuvor in einer LPG arbeitete, per Rad zur Arbeit fuhr und selbstgestrickte Pullover trug. Diese Gewohnheiten hielt Hans Jürgen Zimmermann auch bei, als er ins Rathaus zog. Das störte niemanden. Anfangs.

Dann mehrten sich Stimmen, die seinen Aufzug kritisierten, schließlich repräsentiere er die Stadt. Nach ein paar Monaten holte er erst seine DDR-Anzüge aus dem Schrank. Später kaufte er sich edlere Stücke. Heute fährt er mit dem Auto ins Rathaus. Er hat schon viele der neuen Spielregeln gelernt.

Andreas Hergeth, 33, Stahlschiffbauer und Kulturwissenschaftler, wurde als DDR-Bürger geboren. Rhetorikkurse hat er noch keine besucht