Die Leiche lebt noch

■ Das Mailänder Piccolotheater mit Giorgio Strehlers Inszenierung von Goldonis „Der Diener zweier Herren“ beim Theater der Welt

Von der Havel her wehte ein laues Lüftchen, während Berliner und Brandenburger Prominenz proseccoschlürfend den Wimpelmännchen zusah, die auf dem Dach des alten Potsdamer Gaswerkes den Abend einwinkten. Der Abriß des Backsteinmonstrums und die Umwandlung des Wassergrundstückes in eine Theaterlandschaft ist längst beschlossen. Hier soll irgendwann Potsdams neues Theater stehen. Hoffentlich wird es dann nicht das einzige Theater sein, das Brandenburg noch zu bieten hat.

Ein anderer Blickfang war der Lastwagen einer römischen Spedition, der stilsicher direkt unterhalb des Gaswerkes parkte und dezente Zirkusatmosphäre verströmte. Ganz augenscheinlich hatte das Fahrzeug die Kulissen der Giorgio-Strehler-Inszenierung von Carlo Goldonis Theaterstück „Der Diener zweier Herren“, das hier zum Theater der Welt eingeladen war, von Mailand nach Potsdam transportiert.

Der Riesenlaster war natürlich schamlos übertrieben, denn die paar Paravents, Tische, Stühle und Kandelaber, die man später auf der Bühne sah, hätten auch in einen Mini-Van gepaßt. Es war wohl der Mythos selbst, der soviel Platz beanspruchte. Denn die Inszenierung ist Legende.

Mehr als ein halbes Jahrhundert alt ist sie, und wie der fliegende Holländer reist sie immer noch durch die Welt und darf nicht sterben, obwohl ihr Regisseur Giorgio Strehler selbst schon seit fast zwei Jahren tot ist. Der legendäre Hauptdarsteller Ferrucio Soleri spielt die Rolle des Arlecchino seit 1960. Er hat sie schon von einem legendären Vorgänger geerbt, der ebenfalls mehr als ein Vierteljahrhundert tot ist. Auch der ein oder andere Darsteller wirkte schon etwas ältlich für die jugendliche Figur, die er zu spielen hatte.

Das Publikum aber applaudierte der zirkusreifen Leistung der Schauspieler, der Delikatesse ihrer kostbaren Kostüme und Pantöffelchen, den venezianischen Halbmasken, die für neun Mark in zwei (!) Pausen auch im Foyer zu erstehen waren, am Schluß sehr stürmisch.

Wie kundige Dottores attestierten die Kritiker am nächsten Tag der altehrwürdigen Aufführung erstaunliche Lebensfrische – ganz so, als hätten sie einen Patienten und keine Theateraufführung begutachtet.

Ja, und am nächsten Abend saß ich in der Baracke des Deutschen Theaters. Dort gab es zum letzten Mal Thomas Ostermeiers Inszenierung von „Shoppen und Fikken“, die ja ihrerseits auch schon Legende ist. Bruno Cathomas, der dort den Robbie spielt, wirbelte fast schon so professionell komisch herum wie der alte, ewig junge Arlecchino in Giorgio Strehlers Inszenierung von „Der Diener zweier Herren“. Und da dachte ich, genau so muß es sein: daß Aufführungen irgendwann eben zu letzten Mal gespielt werden, und im Gedächtnis ihrer Zuschauer weiter altern, statt auf offener Bühne. Esther Slevogt