Die Perspektiven der Fischerinsel

Inmitten des Zentrums ist die Stadtlandschaft Peripherie. Mit den „Temporären Gärten“ haben Landschaftsarchitekten auf der Fischerinsel in Mitte einen ungewöhnlichen Ort in Erinnerung gerufen    ■ Von Uwe Rada (Text) und Rolf Zöllner (Fotos)

leich zu Beginn des Romans „Allerseelen“ läßt Cees Nooteboom seinen Helden über ein Wort stolpern: „Nische, ein merkwürdig kurzes Wort, nicht gemein und scharf wie manche anderen kurzen Wörter, sondern eher beruhigend. Etwas, in dem man sich verbergen konnte oder in dem man etwas Verborgenes fand.“ Als Niederländer stellt der Held fest, daß es das Wort Nische nur im Deutschen gibt, und als Wahl-Berliner weiß er, daß gerade diese Stadt davon „durchtränkt“ ist.

Daß im Zuge der Auflösung der städtischen Gesellschaft und ihres öffentlichen Stadtraums nicht nur Nischen, sondern auch konkrete Orte an Bedeutung gewinnen, daß das Lokale als Gegenkonzept zur globalen Informationsgesellschaft dem Körper einen Standort zu geben vermag, ist längst in aller Munde. Doch was ist das, ein Ort? Wem ist er Mittelpunkt, wer betrachtet ihn von außen? Ist nicht alles, also auch die Nische, der Ort lokaler Milieus, am Ende eine Frage des Standpunktes des Betrachters? Die Fischerinsel in Mitte, jene zentrumsnahe Stadtlandschaft mit sechs Punkthochhäusern, Abstandsgrün und Parkplatzteppichen gilt spätestens seit dem Planwerk Innenstadt von Stadtentwicklungssenator Peter Strieder als innerstädtischer Unort. Nachverdichtet und arrondiert soll hier werden, weil sich die urbane Schickeria des Westens nicht nur der Bewohner der Fischerinsel schämt, sondern auch der städtebaulichen Idee der Moderne, die beim Bau der Siedlung und dem Abriß des alten Fischerkiezes Ende der sechziger Jahre Pate gestanden hatte.

Doch bei näherer Betrachtung und aus wechselnden Perspektiven, so zeigt es die viertägige Installation „Temporäre Gärten“, wird selbst aus einem ansonsten nur vom Straßenraum der Gertraudenbrücke wahrgenommenen, peripheren Hochhausgebilde ein faszinierender Ort, an dem Cees Notebooms Held seine wahre Freude gehabt hätte.

Zentrum und Peripherie ist das Thema, dem sich die 21 „Temporären Gärten“, eine Veranstaltung des Berlin-Brandenburgischen Landesverbands des Bundes Deutscher Landschaftsarchitekten, in diesem Jahr widmen. Im Garten „Wunderwelt Feld“ zum Beispiel wachsen die Hochhäuser wie am Stadtrand hinter einem Kornfeld in den Himmel. Was die Macher des Kornfelds, Ute Hertling und Wolfganz Friz, noch als „Lockerungsübung für die Phantasie“ verstehen, wird im Garten „0-5-10-15-20“ von Celine Bocquillon, Delphine Courteel und Martin Sgard mit einfachsten Mitteln materiell. An fünf Fahrstuhl-Haltestellen eines 20geschossigen Hochhauses zeigen sie die Peripherie aus einer sich vertikal verändernden Perspektive. Während auf der eigens entworfenen Panoramatafel auf dem Balkon ganz unten vor allem Pappeln, Spielplätze und Autos zu sehen sind, blickt man vom fünften Stock auf die Wallhöfe, vom zehnten auf das Heinrich-Heine-Viertel, vom fünfzehnten auf das Kottbusser Tor und vom zwanzigsten auf die Gropiusstadt im Neuköllner Süden. Illustriert werden diese Ausblicke mit Polaroidfotos der jeweils betrachteten Orte. So behält auch der Blick in die Ferne die Perspektive des Lokalen. „Egal, wo er wohnt, baut sich jeder sein Zentrum und betrachtet das Umfeld als Peripherie“, umschreiben die Landschaftsarchitekten ihr Projekt. So könne es sein, daß im zwanzigsten Stock eines Hochhauses der Gropiusstadt jemand auf die Fischerinsel schaut und an dieser Stelle, inmitten der Stadt, deren Peripherie vermutet.

Am abrißbedrohten „Ahornblatt“ schließlich wird Peripherie als jene Zeit verstanden, die der Jetztzeit am entferntesten ist. Kurzerhand wurde der ehemalige „Marktplatz“ der Fischerinsel deshalb zum vorweihnachtlichen Raum erklärt – mitsamt der Bitte an die Bewohner, den Weihnachtsschmuck auch im Juli in die Fenster zu hängen.

Doch nicht nur der Blick auf die äußere räumliche und zeitliche, sondern auch auf die innere Peripherie wird in den „Temporären Gärten“ kultiviert. Im Garten „Park schöner – schöner Park“ etwa wird auf spielerische Art mit dem Begriff der Parklandschaft als Standort für Autos jongliert. Und im Garten „Entmischung“ sind Dutzende von Gummihandschuhen zu sehen, eine Metapher für die funktionale Entmischung des modernen Städtebaus, bei dem als einzige Bewohner am Tage die Hausfrauen zurückbleiben.

Anspruch und Wirklichkeit – selten ist die Widersprüchlichkeit dieser Epoche des Städtebaus so eindrucksvoll erfahrbar wie derzeit auf der Fischerinsel. Und selten wird sie so ernst genommen, werden neben den 21 Gärten auch die verschiedenen Planungsentwürfe zur Weiterentwicklung dieses peripheren Orts im Zentrum vorgestellt. Immerhin, so lautet das Ziel der Veranstalter, „gilt es, die Fischerinsel als Ort signifikanter Potentiale und Qualitäten zu entdecken. Und als Ort für Verborgenes. Schließlich beinhalte Peripherie, wie die Macher eines der Gärten betonen, „hier wie dort, daß die Flächen sich aus Nutzungsinteressen heraus entwikkeln, nicht nach ästhetischen Gesichtspunkten entwickelt werden“. Oft entstünden dabei „freie Räume, die Zwischennutzungen zulassen, Experimente, Aneignungen für kurze Zeit. Diese Veränderungen des Raumes bieten die Chance, den Blick für neue Möglichkeiten offenzuhalten.“

Mit den „Temporären Gärten“ ist dem Bund der Landschaftsarchitekten in diesem Jahr eine Ausstellung gelungen, die nicht nur einen bislang vorwiegend am Rande wahrgenommenen (und planerisch stigmatisierten) Stadtraum erfahrbar macht, sondern auch den Blick schärft für das, was Stadt sein kann: ein bauliches, räumliches und soziales Mosaik unterschiedlicher Perspektiven an einem Ort. Und eine Nische, an der an diesem Wochenende nicht nur die Bewohner der Fischerinsel ihre Klappstühle nach unten tragen.

Bleibt zu hoffen, daß diese Botschaft ankommt bei den Urbanisten der Postmoderne. Schließlich würde durch eine Blockrandverdichtung der Fischerinsel nicht nur ein widersprüchliches Zeugnis der DDR-Moderne aus dem Stadtbild getilgt werden. Auch der so vielseitig variierbare Perspektivenwechsel zwischen Zentrum und Peripherie würde einem Ort weichen, der nichts von beidem wäre: weder Stadt, noch Rand, sondern nur eine der ortlosen Versatzstükke aus dem Baukastenrepertoire der Kapitalanleger- und Toskanafraktion. Von solchen Orten hat die Stadt freilich schon genug.

Die Temporären Gärten sind noch bis zum 4. Juli auf der Fischerinsel zu sehen. Am Sonntag findet um 10 Uhr ein Picknick statt. Infos beim Infoschiff an der östlichen Spitze der Insel.