Emanzipation auf dem Lande

Eine Stille, als wäre die Welt ausgeschaltet. Terézia Mora ist mit 18 Jahren vor dem Muff ihrer ungarischen Heimat geflohen. Ihr literarisches Debüt handelt von archaischen Dörfern und der jugendlichen Einsamkeit. Ein Porträt der Bachmann-Preisträgerin  ■   Von Volker Weidermann

Sie kommt. Die Dichterin. Mit dem Dichterdiplom aus Klagenfurt. Bachmannpreisträgerin 1999: Terézia Mora aus Ungarn lebt seit neun Jahren in Berlin, in Pankow unter dem Dach, 88 Stufen hoch, wie sie stolz berichtet.

In dem Dorf, aus dem sie kommt, dicht an der Grenze zu Österreich, gab es nur flache Häuser, bis auf einen dreistöckigen Plattenbau. Da ist sie immer die Treppen hochgestiegen und wieder runter. „Ich war als Bauernkind von Anfang an nicht an der Scholle interessiert, sondern daran, Autoabgase einzuatmen und Treppen zu steigen.“ Jetzt hat die Achtundzwanzigjährige ihr erstes Buch geschrieben, und es handelt eigentlich nur von ebendieser „Scholle“, von dem kleinen Bauerndorf in Ungarn, aus dem sie mit achtzehn Jahren geflohen ist, zuerst nach Budapest, dann nach Berlin.

Wir sitzen im Café „ici“ in der Auguststraße im Bezirk Mitte. Die Wände sind vollgehängt mit Bildern, die alle eine recht mystische Frau mit langen, dunkelroten Haaren zeigen – die Besitzerin, die immer mal wieder durch ihren dunklen Gastraum schwebt. Auch Mora hat lange, rote Haare, sie trägt ein Jeanskleid, darüber einen rötlichen Seidenüberwurf. Wie aus einer anderen Zeit, denkt man. So eine ferne Jane-Austen-Anmutung. Aber nicht inszeniert, nicht gemacht, weil man sich gerade mit einem Journalisten trifft, mit Fototermin und so. Mora, eine Dichterin aus einem anderen Jahrhundert. Als wir uns telefonisch verabredeten und einen Ort suchten, erklärte sie, keine Kneipen zu kennen. sie gehe abends kaum weg. Ja, ins Kino, manchmal.

„Seltsame Materie“ heißt der Erzählungsband, der in der nächsten Woche bei Rowohlt erscheinen wird. Eigentlich sollte er ja erst Ende Juli kommen, aber man will den Klagenfurter Schub jetzt schnell nutzen. Als der Verlag Terézia Mora „entdeckte“, vor zwei Jahren, beim „open mike“-Wettbewerb in der Berliner literaturWERKstatt, gab es nur eine einzige Erzählung von ihr. Rowohlt erwarb sogleich die Option auf den nun erwarteten Erzählungsband, und zum diesjährigen Bachmann-Wettbewerb reiste sie schon mit dem fertig lektorierten Buch an. Erfolg ist manchmal planbar.

Sie schrieb damals eigentlich Drehbücher, studierte das auch an der Berliner Filmhochschule, schrieb Skripte für Krimis, von denen einer gerade fürs ZDF verfilmt wird. Alle anderen Studenten haben Komödien geschrieben, sagt sie. „Aber dafür bin ich viel zu ernst, viel zu tragisch veranlagt. Ich wollte Dramen schreiben. Beim Fernsehen sind das eben Krimis.“

Damals fügte sie trotzdem schon immer gern kurze Prosapassagen in die Drehbuchtexte ein. Das kam nicht so gut an. Aber für anderes wurde sie bei ihrem Professor hoch gelobt: „Mir gefallen deine Dialoge. Da klebt noch so richtig die Erde dran“, meinte der Dozent. Mora fand das ein zweifelhaftes Lob. Ein Lob, das sich in den geweihten Höhen der Klagenfurter Literaturkritik aus dem Munde Iris Radischs am letzten Wochenende so anhörte: „Dieser agrarkulturelle Abstraktionsgrad hat mich angesprochen“, so die gelehrte Hamburger Literaturkritikerin. Dabei ist nichts abstrakt in diesen Erzählungen. Alles konkret und erfahrbar, nichts Diskursives, Theoriedebatten sind weit, weit weg.

Das Dorf, das Land, die Felder, die Einsamkeit, die Fremdheit, die Stille und der Wille zur Flucht. Das sind die großen Worte, um die sich die Texte in Terézia Moras erstem Erzählungsband ranken. Es sind Texte einer unglücklichen Kindheit in einer archaischen Welt und die Versuche, all das hinter sich zu lassen, die kleine Welt des Kaffs, die Feindseligkeit der Dorfbewohner, das Unverständnis der Familie. Der Ton ist immer traurig, meist hoffnungslos. Mal resignierend: „Und wir bleiben hier, sage ich, mittendrin. Wir überwinden das Schlimmste wohl nie“, heißt es in der Erzählung „STILLE. mich. NACHT.“ Mal todessehnsüchtig: „Warum sinke ich nicht hinab. Warum nicht, wie in den Träumen, majestätisch ins Meer.“ Manchmal entschlossen: „Ich stoße mich ab. Ich breche durch.“ Fluchtgeschichten: vom Aufbrechen in eine bessere Welt – vielleicht auch nur vom Erwachsenwerden, Menschwerden, dazugehören, irgendwie.

Manchmal gelingt das den Hauptfiguren mit Hilfe des Schreibens. Gegen die Umwelt: „Ein Gedicht, Großvater, ist ... Ich weiß, was das ist. Warum schreibst du so was? Bist du wirr im Kopf?“ Dann flieht sie zu Fuß mit der schweren Schreibmaschine. „Ich war einfach sehr, sehr unglücklich als Kind“, sagt Mora. „Ich habe sehr lange gebraucht, um mich von dieser Traurigkeit loszumachen. Das hat eine sprunghafte Beschleunigung erfahren, in dem Moment, in dem ich angefangen habe zu schreiben. Seitdem ist so etwas wie ein Schalter umgelegt von null auf eins, und auf einmal ist alles wunderbar, und man kann es meistern.“

Daß Moras Kindheitsgeschichten trotzdem keine Erinnerung an irgendeine Form von eigentherapeutischer Bekenntnisliteratur oder Kitsch aufkommen läßt, liegt an der Knappheit, der Präzision und der starken Metaphorik ihrer Sprache, den schnellen, genau gesetzten Szenenwechseln, der Schnittechnik der Bilder, die sich oft erst am Ende zu einem stimmigen Bild zusammenfügen.

Zu Beginn ihres Schreibens hat sie versucht, alles sprachlich Ungenaue und Unnötige aus ihrem Schreiben zu tilgen. Mit dem Ergebnis, daß nichts übrigblieb oder nur zwei, drei Sätze, die nichts bedeuteten, sagt Mora. Jetzt ist sie nachsichtiger geworden, so daß immerhin noch Geschichten übrigbleiben. Aber die detailbesessene Präzision und den Willen zur Schlichtheit hat sie behalten: „Sag es einfach. Wort für Wort. Lege kein Pathos hinein“, heißt es in der Erzählung „Seltsame Materie“.

Am häufigsten und eindringlichsten sind in den Geschichten der Terézia Mora die Bilder der Fremdheit, die sie findet. Weil sie selbst zur deutschsprachigen Minderheit in Ungarn gehörte, war das Gefühl des Nichtdazugehörens das zentrale ihrer Kindheit. Die fremde Sprache als Stigma: „Wer spricht, wie man in meiner Familie spricht, ist ein Faschist“, erfährt die Figur Ophelia von ihrer Lehrerin. Die ganze Familie in der preisgekrönten Erzählung „Der Fall Ophelia“ führt eine Randexistenz: „Sprechen fremd und beten nicht. Man dreht sich um zu uns und ist ganz still.“

Das alles liegt aber nun, nach neun Jahren in Berlin, weit hinter ihr. Mit dem jetzt erscheinenden Erzählungsband soll das Thema „Kindheit in einem archaischen ungarischen Grenzdorf“ endgültig abgeschlossen sein. Nun also: Auf ins Leben, Dichterin! Ankommen in Berlin! Ja, ja, sagt Mora, schon gut, schon gut. Der neue Erzählungsband mit Stadtgeschichten ist schon fertig konzipiert.

„Sag es einfach. Wort für Wort. Lege kein Pathos hinein“, so lautet bei Mora der Wille zur Präzision.