Leben mit regierendem Kriegsverbrecher

■  E-Mail aus Belgrad: Die taz dokumentiert den letzten Brief der 25jährigen Studentin Andjela an das Augsburger Jugendmagazin „X-mag“. Dieser Krieg, sagt sie, war das beschämendste Kapitel der serbischen Geschichte

Lieber Albert, ich hatte gehofft, nach dem Krieg würde die beste Zeit unseres Lebens beginnen: Reisen, Spaß haben, all die Dinge tun, von denen wir immer geträumt haben. Ich hatte es erhofft, aber nicht erwartet. Der Kriegszustand ist jetzt zwar aufgehoben, aber frei sind wir deshalb nicht geworden. Der E-Mail-Kontakt mit Dir hat mir über den Zeit des Krieges hinweggeholfen; das Schreiben war ein Ventil für meinen Frust. Wenn ich zurückblicke, scheint mir der Beginn des Krieges das Schlimmste gewesen zu sein.

Obwohl ich meine nüchterne Einstellung gegenüber dem „Erwachen des Nationalbewußtseins“ und der „Wir Serben müssen zusammenhalten“-Hysterie bewahren konnte, kommt mir die Zeit der Massenaufläufe, der patriotischen Lieder, Konzerte, der Gehirnwäsche des Fernsehens und der Freiwilligen, die in den Krieg ziehen wollten, im Rückblick als der niedrigste, schmutzigste und beschämendste Kapitel in unserer Geschichte vor.

Es kam mir vor, als seien es keine Menschen gewesen, die das taten, sondern Zombies: geistig umnachtet, blutrünstig, sich unbesiegbar fühlend und in Richtung unsichtbarem Feind schreiend. Ich bin sicher, diese kollektive Halluzination wäre ein interessantes Forschungshema für jeden Psychologen. Platz für Individualismus und Individualisten gab es nicht mehr. Das gab mir das Gefühl der Isolation.

Ich hatte plötzlich Angst, wirklich alleine dazustehen – als Verräterin, als Spionin. Sogar mein Vater hat sich verändert. Ich habe mich nie vor ihm gefürchtet, weil ich wußte, daß seine Blindheit nur vorübergehend war. Dennoch habe ich all meine E-Mails geschrieben, wenn er außer Haus war. Ich wollte nicht provozieren.

Als die Explosionen näher kamen, die Wasser- und Stromversorgung zusammenbrach und die Zahl der zivilen Opfer anstieg, wurden die „Zombies“ wieder zu Menschen: Sie hatten Angst. Und obwohl die Situation objektiv gesehen viel schwieriger war und wir schwächer und schwächer wurden, ging der Fanatismus zurück.

Krieg passiert nicht irgendwo weit weg, er kann bis vor deine eigene Haustüre kommen. Es ist in Bosnien passiert, und wir haben das Signal nicht verstanden. Es war alles andere als Zufall oder Schicksal, daß ein paar Jahre später ausgerechnet Serbien an der Reihe war. Es ist passiert, weil wir nichts aus dem Bosnienkrieg gelernt haben und weil wir immer noch in einer Scheinwelt lebten, die von den uns regierenden Kriegsverbrechern aufgebaut worden ist.

Kosovo ist noch weit vom Frieden entfernt, die Serben dort sind Vergeltungsschlägen ausgesetzt. Wenn ich mir die Zahl der Flüchtlinge anschaue, kann ich mir nicht vorstellen, daß dort überhaupt noch Serben leben. Die Provinz scheint also tatsächlich „ethnisch rein“ zu werden. Welch eine Schmach für diejenigen Serben, die eine „ethnische Säuberung“ unter ganz anderen Vorzeichen wollten.

Aber wer trägt die Hauptschuld? Sind es die Polizisten, die Tausende von Zivilisten getötet haben sollen und die auch schon damals, während der Studentenproteste, so brutal auf uns eingeprügelt haben? Oder sind es die Leute, die ihnen die Befehle gaben und die ihnen die perversen nationalen Ideen eingeredet haben?

Wie in einem schlechten Film spielt sich der Präsident jetzt als derjenige auf, der das Land wieder aufbaut, wenn er an zukünftigen Baustellen Reden schwingt. Die kleine Menge grotesk aussehender Bauarbeiter jubelt ihm zu, dahinter stehen Regierungsoffizielle in ihren dunklen Anzügen mit gefrorenem Lächeln.

Der Präsident lobt seine eigene „Friedenspolitik“. Aber er kann keine Antworten auf die wichtigsten Fragen geben: Brauchten wir tatsächlich einen Krieg, damit seine „Friedenspolitik“ siegt? Warum, Herr Präsident, erklären Sie den Flüchtlingen nicht, wo sie Zuflucht finden? Was ist mit den jetzt entdeckten Massengräbern, Herr Präsident? Wofür all die Toten?

Wir selbst sind außer Lebensgefahr, aber immer noch auf der Intensivstation. Der Westen hat mehr als klar gemacht, daß Serbien keine Hilfe erwarten kann, solange die Kriegsverbrecher an der Macht sind. Erst einmal benötige das Land dringend demokratische Reformen.

Ach wirklich? Und was ist mit den letzten zehn Jahren? War damals die Demokratie weniger nötig als jetzt? Mußten wir erst wirtschaftlich und geistig total zerstört werden, um Demokratie zu verdienen? Die viel zu lange Zeit der Lügen verdankt Serbien einer Opposition, die genauso korrupt ist wie die Regierung. Genau wie den Regierenden geht es den Oppositionellen nur um Macht und Geld. In den letzten Jahren sind sie zu viele Kompromisse eingegangen, so daß sie das Vertrauen der Menschen verloren haben. Die meisten haben von Politik die Schnauze voll und würden am liebsten gar nicht mehr wählen gehen.

Was wir demnächst in Serbien erwarten können, sind interne Machtkämpfe um die Thronfolge. Ich habe das Gefühl, das wird noch ekelerregender als alles bisher Dagewesene. Kommt das alles durch die verdammte Balkan-Mentalität, die nach Selbstzerstörung lechzt? Sind wir wirklich so dumm, so rückständig?

Und wie unerträglich ist die Nostalgie jener Leute, die ins Ausland geflüchtet sind: Wie sie zusammen die alten Volkslieder singen und ihre traditionellen Balkan-Gerichte kochen. Es gibt kein Zurück und kein Happy-End. Für keinen von uns.