Kulturtempel fährt ins Eisenbahnwerk

In das ehemalige Ausbesserungswerk der Reichsbahn an der Revaler Straße in Friedrichshain zieht ein Kulturprojekt – als Zwischennutzer. Langfristig will die Bahn die Industriebrache im Auftrag des Bundes verkaufen   ■  Von Marc Ermer

„Helmpflicht!“ mahnt das Schild gleich am Eingang. Wer das denkmalgeschützte Eingangsportal an der Revaler Straße in Friedrichshain durchschreitet, blickt auf das ehemalige Ausbesserungswerk der Reichsbahn (RAW). Zerborstenes Glas, verrostete Metallteile und überwucherte Gleise liegen zwischen Backsteinbauten und riesigen lichtdurchfluteten Hallen.

Gähnend leer stehen sie, seitdem das Werk nicht mehr von der Bahn genutzt wird. Doch es regt sich Leben auf dem verlassenen Gelände. Architekturstudenten, Musiker, Kunsthandwerker, Tänzer und Maler begeistern sich für die eigenartige Atmosphäre dort. Zusammengebracht hat sie der Verein RAW-Tempel.

Vor einem Jahr gründeten Anwohner um Carola Ludwig den Verein. Den Anblick der Industriebrache vor Augen kam ihnen die Idee für ein großangelegtes Kiez-Kulturprojekt. Der „Tempel“ im Namen ist eine Reminiszenz an den Verein „Industrietempel Mannheim“, erläutert Vorstandsmitglied Bibiena Houwer. Dort sammelte sie erste Erfahrungen in der Nutzung von Industrieanlagen für künstlerische Projekte. „RAW“ ist die Abkürzung für „Reichsbahnausbesserungswerk“. Der Anklang an das englische raw (roh) passe zum unfertigen Charakter des Projektes, meint Houwer.

Das RAW-Gelände hat den Flair eines überdimensionalen Abenteuerspielplatzes und soll nun zum Experimentierfeld werden: Ihr Konzept für eine vorübergehenden Nutzung sehen die Initiatoren von RAW-Tempel als Chance für eine Stadtentwicklung von unten. Vorgesehen ist eine bunte Mischung aus Kunst- und Jugendprojekten. Gruppen und Einzelpersonen wollen eine Keramikwerkstatt und Fotoausstellungen einrichten, Musikinstrumente bauen, Theaterstücke und Hörspiele produzieren.

Eine Sambaschule hat sich ebenso angekündigt wie Architekten der Technischen Universität Darmstadt. Es wird einen Aufenthaltsraum für den Seniorenrat ehemaliger RAW-Mitarbeiter geben, ein Archiv wird die Geschichte des RAW dokumentieren. Die Metallwerkstatt, in der Möbel und Großskulpturen gefertigt werden, soll zugleich ausbilden. Das weiträumige Gelände mit seinen riesigen Hallen bietet Raum für solche Projekte mit größerem Platzbedarf, auch für Aufführungen und Konzerte.

Bevor es jedoch richtig losgehen kann, muß erst noch ein Mietvertrag geschlossen werden. Bislang gibt es lediglich eine Betretungserlaubnis für den RAW-Tempel. Der Verein wird jedoch nicht direkt der Mieter werden, und Vermieterin ist auch nicht etwa die Deutsche Bahn. Da die Anlagen nicht mehr dem Fahrbetrieb dienen, werden sie von der Eisenbahnimmobilien Management GmbH verwaltet.

Deren Aufgabe ist die Projektentwicklung, also Nutzungskonzepte für Objekte wie das RAW zu finden, um diese dann zu verkaufen. Mit der kaufmännischen Abwicklung wiederum ist eine Tochter der Allianz beauftragt. Die Allianz Grundstücks GmbH hat nun einen Vertrag vorgelegt, wonach der Bezirk Friedrichshain Mieter wird und das Gelände an den Verein weitervermietet. Der Bezirk springt als Vermittler ein, Kaution und Mieten wird der Verein als freier Träger übernehmen. Zuschüsse gibt es also nicht, indirekt unterstützt die öffentliche Hand das Kiez-Kulturprojekt aber dadurch, daß der Verein nur die Betriebskosten tragen soll und dem Vermieter somit kein Gewinn entsteht, wie Marcus Dreßler von der Allianz erläutert. „Wir versprechen uns lediglich einen Imagegewinn und betrachten diese Vermietung als eine Investition in die Zukunft.“

Die kulturelle Zukunft wird allerdings auf wenige Jahre begrenzt sein. Denn das Fernziel der EIM, die ehemaligen Bahnobjekte im Auftrag des Bundes zu verkaufen, besteht weiter. „Temporäre Kulturprojekte sind damit vereinbar“, findet Jürgen Heyder von der EIM. Er spricht sogar von „Interessengleichheit“: Schließlich verringere sich die Vandalismusgefahr, wenn das Gelände belebt ist. Konkrete Pläne zur endgültigen Nutzung gebe es derzeit nicht, und RAW habe auch nicht oberste Priorität bei der Suche nach Konzepten, sagte Heyder.

Bislang wurde das Gelände beispielsweise als Kulisse für Filmaufnahmen genutzt. „Die Hallen könnten von Speditionen als Lager genutzt werden“, sagt Heyder und verweist auf die Gleisanbindung. Ein Teil des Geländes wird derzeit noch genutzt für die Reinigung und Wartung von Intercity-Zügen. Die Gesamtfläche beträgt mindestens 72.000 Quadratmeter. Die genaue Tiefe des Grundstücks ist unklar, eventuell kommen noch Flächen der Bahn hinzu.

Das Angebot zur Vermietung an RAW-Tempel umfasse 6.000 Quadratmeter, berichtet der Friedrichshainer Kulturstadtrat Dieter Hildebrandt (PDS). Der Vertrag liege derzeit beim Bezirk Friedrichshain. Die Entscheidung solle in den nächsten Tagen fallen.

Über den Bezirk kam der Kontakt zwischen dem Verein und den Verwaltungsgesellschaften überhaupt erst zustande. Hildebrandt ist sehr angetan vom Konzept des Vereins. Stadtplanerisch verspricht er sich von dem Projekt Impulse für die „künftige perspektivische Gestaltung des Gebietes im Herzen des gemeinsamen Großbezirkes Friedrichshain-Kreuzberg“.

Auch kulturpolitisch hält er den RAW-Tempel für „eine signifikante Bereicherung“. In drei Veranstaltungen, die er persönlich besuchte, habe er „eine Art und Form von Kultur erlebt, die wir so nicht haben.“ Vielfalt und Niveau hätten ihn angenehm überrascht. Zuversichtlich weist Hildebrandt darauf hin, daß alle Parteien der BVV Friedhain das Projekt unterstützen wollten und der CDU-Fraktionsvorsitzende erklärt habe: „Wir brauchen wesentlich mehr alternative Projekte.“ Die nächste Veranstaltung des RAW-Tempel: Das Ost-West-Forum „Ostwestpolis“ am 9. Juli, 16 bis 19 Uhr, Revaler Straße 99.

Das weiträumige Gelände mit seinen riesigen Hallen bietet Raum für Werkstätten, Aufführungen und Konzerte