Leichte Muse und schwere Kost vereint

■ „Der Glöckner von Notre Dame“ soll die Stella AG sanieren. Doch nach einem Monat Laufzeit droht Quasimodo noch nicht einmal die 45 Millionen Investitionen einzuspielen

Statt auf die Terrakottafassaden der Neubauten am Potsdamer Platz blickt Jens Janke konzentriert auf sein Spiegelbild. In der Garderobe des Stella-Musicalhauses vollzieht der Schauspieler die alltägliche Metamorphose in seine Rolle, in der er in 30 Minuten auf der Bühne steht – als Zigeunerfürst Clopin im „Glöckner von Notre Dame“. Janke, zuletzt in Wien engagiert, freut zwar, daß die Berliner ja ein ganz „wunderbares, enthusiastisches Publikum“ sind. Aber „die derzeitige Belastung für uns ist außergewöhnlich groß, ein bißchen müde sind wir alle im Ensemble“, sagt er: acht Vorstellungen pro Woche, parallel dazu die Produktion der CD mit den Songs im hauseigenen Studio. Und die rasante Inszenierung „ist sicher das Anstrengendste, was ich je gemacht habe“, sagt der 32jährige.

Wenig später eröffnet Janke als erzählender Bettlerkönig Clopin das Stück. Vom „Tanz auf dem Seil“ kündet er dabei singend – für den Musicalgiganten Stella AG ein geradezu prophetischer Song. Denn nach der euphorisch gefeierten Premiere des Stückes, das über die weitere wirtschaftliche Zukunft des Hamburger Unternehmens entscheidet, sind die Stimmen in den Feuilletons und bei Stella selbst verhaltener geworden – man steht unter Erfolgsdruck.

Die derzeitige Publikumsauslastung des „Glöckners“, der vor genau einem Monat startete, gibt Stella mit rund 80 Prozent an. „Das entspricht unseren Erwartungen“, heißt es lapidar bei Stella-Sprecher Hans Peter Sommer. Doch damit reiht sich das aufwendig beworbene Stück keine vier Wochen nach seiner Weltpremiere bereits ein in den Durchschnitt der bisherigen Stella-Produktionen, die im vergangenen Jahr die Säle nur zu drei Vierteln füllten und so zu einem Umsatzverlust von immerhin 95 Millionen Mark beitrugen. Diese Lücke – ein Siebtel des Umsatzes, soll der Glöckner schließen. Einige Tage nach der Berliner Weltpremiere kündigte die Traumfabrik zudem einen umfangreichen Konzernumbau im kommenden halben Jahr an, nach dem man wieder schwarze Zahlen schreiben will.

So „schwarz wie die Nacht, in der alles begann / auf dem Hain von Notre Dame“, rezitiert Janke alias Clopin – auch an diesem Abend vor nicht ausverkauftem Haus. Die Logen und die teureren Plätze im Parkett – in Preislagen zwischen 150 und 200 Mark – bleiben, in der zweiten sonntäglichen Vorstellung, leer. Immerhin fünf Jahre lang muß Quasimodo die 1.800 Plätze am Potsdamer Platz jedoch füllen, damit sich die Investitionen, rund 45 Millionen Mark, rechnen. Genug Zeit, denn „das Publikum muß sich an manche Neuheiten auch erst gewöhnen“, heißt es bei Stella.

Die Neuheiten sind vor allem technischer Art. Die Zeiten des „manual rigging“ – der handbetriebenen Musicalbühne, wie etwa bei „Das Phantom der Oper“ sind bei Stella vorbei. Computergesteuert sind die 50 Antriebsmotoren für Dekorationsteile, die sieben Hochleistungsprojektoren für die Hintergrunddias und die 489 Scheinwerfer. Doch daß mancher Kritiker der Lichttechnik und dem auf fahrenden Riesenwürfeln basierenden Bühnenbild mehr Beifall schenkte als der Leistung der Schauspieler, enttäuschte nicht nur die künstlerische Leiterin Ilene Winckler. „Das Bühnenbild ist ständig in Bewegung“, sagt sie, „die Schauspieler müssen nicht nur ihre Rolle spielen, sondern äußerst vorsichtig sein, um nicht irgendwo herunterzufallen – ein unglaublicher Kraftakt.“

Dem Kraftakt, den Potsdamer Platz mit dem Glöckner zu beleben, sehen andere skeptisch. Aus den Shopping-Mall-„Arkaden“ freut man sich zwar über die „belebte Piazza“, doch mit Erhebungen über Umsatzsteigerungen nach dem Glöckner-Start hält man sich bedeckt. Verhaltener Optimismus auch beim „Mitbewohner“ im Stella-Musicalgebäude, der Spielbank. Vom musikalischen Zugpferd nebenan hatte man sich dort mehr erhofft. „Nur wenige Musicalbesucher verirren sich zu uns“, sagt Spielbank-Sprecherin Inga Stotz. Und das, obwohl die Spielbanker nach der Glöckner-Premiere nicht nur Freigutscheine vor dem Theaterfoyer verteilten, sondern inzwischen auch Teil eines Pauschalpakets sind, das die Stella-Tochter Musical Reisen für die Bühnentrips anbietet: „mit Inklusiv-Jetons und kostenloser Rouletteschulung“. Auch im vis-à-vis gelegenden Grand Hyatt Hotel setzte man seit der Eröffnung im Oktober letzten Jahres auf die Musicalgäste, die vor allem als Reisegruppen anreisen: „Hotel und Gastronomie haben auch saisonbedingt mehr Zulauf, uns fehlen noch die Vergleichswerte“, gibt sich Marketingleiter Lothar Quartz unbestimmt. Die Auslastung der 340 Hotelzimmer liege derzeit trotz Quasimodo und Esmeralda bei nur rund 50 Prozent.

Weniger „erlesene“ Anbieter machen da mehr Umsatz: Vor, nach und selbst in der kurzen Pause des Glöckners strömen die Gäste in die gegenüberliegende McDonald's-Filiale und stehen später mampfend im sechsgeschossigen Foyer: leichte Muse und schwere Kost vereinend. Wirkliche Spuren hinterläßt Quasimodo daher bislang nur in der eigenen Plakatkampagne: als riesiger Schatten auf Berliner Sehenswürdigkeiten.

Christoph Rasch