Augen zu und locker durch

Deutsche Männer können seit Jahren nicht mehr sprinten – jetzt kommt Stefan Holz, wird 200-m- und 400-m-Meister und ist ganz schön schnell. Wie das?   ■  Aus Erfurt Peter Unfried

Natürlich hat niemand im Westen dieses Landes vergessen, wie damals in München 1972 der Europarekordler Karl Honz als Schlußläufer der 4 x 400 m-Staffel los- und allen davonstürmte. Es war ein Erlebnis fast wie bei Dieter Baumanns Olympiasieg in Barcelona. Nur daß Honz zusammenbrach und nichts gewann. Karl Honz. Unvergessen. Oder? „Honz?“ Fragt Stefan Holz: „Da muß ich passen.“ Vom DDR-Weltmeister Thomas Schönlebe hat er etwas läuten hören, ansonsten hat er es nicht mit der ruhmreichen Geschichte deutscher 400-m-Läufer. „Ich lauf' lieber.“

Seine Sache. Und sein gutes Recht. Nur ist es so, daß man ihn seit Samstag in einen Zusammenhang setzt mit großen Namen aus einer anderen Zeit. 45,19 sec ist Holz (20) beim Gewinn der deutschen Meisterschaft in Erfurt gelaufen. International nicht weiter erwähnenswert. Aber so schnell wie lange kein DLV-Athlet mehr – und so schnell wie noch nie zuvor ein Deutscher in diesem Alter (Schönlebe mal ausgenommen).

Es gibt ja seit Jahren keine international wettbewerbsfähigen deutschen Kurzstreckenläufer mehr – weder über 100, 200 noch 400 m. Daraus ergeben sich für die staunende Öffentlichkeit zwei Fragen: 1. Wie schafft Holz das? 2. Was kann er noch schaffen? Beides sind gute Fragen – nur leider nicht eindeutig beantwortbar.

Es ist so, daß Holz' Trainer Martin Seeger in den letzten Wochen einen schönen, einfachen Satz wiederbelebt hat: „Laufen kommt vom Laufen.“ Klingt gut. Sagt Holz auch immer. Krafttraining, die heilige Kuh des DLV- Sprints, schlage bei ihm eh nicht an. „Ein Muskelprotz wie Ato Boldon werde ich nie“, sagt er. Statt dessen läuft er viel, auch im Wald und macht viel Sprungtraining.

Was macht Holz aus? Groß ist er nicht (1,76 m) , breit ist er nicht. „Einen schönen, langen Schritt“ hat er, sagt Vater Holz. Und dann beherrscht er, sagt Trainer Seeger, die Kunst, „locker zu bleiben“. Der Athlet habe den „Killerinstinkt“. Als es in Erfurt auf die Zielgeraden ging, sah man, was er meinte. Über 200 m übersprintete er den führenden Holger Blume auf den letzten 30 Metern. Über 400 m war er schon bei 200 an denhärtesten Konkurrenten Liebe und Faller dran. Beide Male, sagte er, „blieb ich locker“. Das heißt: Er zog seinen Schritt durch.

Bahnt sich da nach den Baumanns ein neues schwäbisches Taumpaar an, diesmal bestehend aus einer resolut-konservativen Vaterfigur – und seinem vertrauensvoll unbeschwerten Schüler?

Letztes Jahr wurde Holz Jugendmeister über 100 m und 200 m und holte Platz 8 über 100 m bei der Junioren-WM. Vor dieser Saison kam der DLV mit der Zielvorgabe U 23-EM in Göteborg, aber Seeger, hauptberuflich Ingenieur, richtete seinen Blick auch auf die WM in Sevilla.

Und nun: Hat er innerhalb weniger Wochen seine Vorjahreszeit von 47,96 sec über 46,31 und 45,82 auf 45,19 sec verbessert – in Halbsekundenschritten. Über 200 m hat er sich von 20,94 über 20,67 auf 20,43 letzte Woche in Dortmund verbessert. Gestern gewann er in 20,68 sec. Aber da war im Gegensatz zum Vortag kein Sprinterwetter, die Bahn naß und der Athlet „schon etwas kaputt“.

Die WM-Norm des Verbandes hat er für beide Strecken erfüllt, kann eine deutsche 4 x 400 m-Staffel anführen und in Ruhe überlegen, welche Einzelstrecke es sein soll.

Das ist erstaunlich und wirft die Frage auf: Wie geht das weiter? Und mit welcher Infrastruktur?

Holz wohnt in Bernhausen – das liegt ein paar Kilometer südlich von Stuttgart. Bei den Eltern. „Daheim fühl' ich mich wohl“, sagt er. Seine Ausbildung zum Industriekaufmann macht er am Flughafen Echterdingen, fünf Minuten von zu Hause. Verein (VfL Sindelfingen) und Landestützpunkt sind um die Ecke.

Das ist gut. Aber funktioniert Ganztagsarbeit in einer Branche, in der sonst nur Vollprofis reüssieren?

Sicherheit geht vor, sagt Holz senior, „bis jetzt verdient er ja noch kein Geld mit dem Laufen.“ Bis jetzt war er auch nur ein Talent, das einen Ausrüster hat und ein paar Mark vom DLV kriegt. Jetzt dreht sich die Sache aber auch um Sydney 2000. Kommendes Frühjahr hat Holz erst mal Prüfungen. Und Freistellungen sind nicht, ob wohl sein Chef offenbar ein Riesentyp sein muß. Kein Problem: „Ich bring' meine Leistung im Geschäft.“ Und für U23-EM und WM nimmt er dann Urlaub.

Letztes Jahr hat Holz auch noch Fußball gespielt. Beim TSV Bernhausen. Entweder Kreisliga oder Bezirksliga. Genau kann er sich nicht mehr erinnern. Und nun kommen alle und konfrontieren ihn mit Namen und Zeiten wie 44,70 (Honz), 44,50 (Erwin Skamrahl) oder gar mit dem Europarekord (44,33) des Chemnitzers Schönlebe. In Erfurt verfolgte ihn ein Kamerateam seines Regionalsender SWR. Als er den Presseraum verließ, klatschten gar die Fachjournalisten. Baut sich da ein furchtbarer Druck auf? Ah noi, „das verkraftet der“ , sagt der Vater, und der Trainer meint, er stekke das „locker weg“.

Der Athlet spürt inzwischen „ein bißle eine kleine Belastung“. Aber wirklich nur so ein bißle, wie er Flaum auf dem Kinn hat. Ansonsten gilt im Leben wie im Rennen: „Augen zu und durch“ (Holz). Und zwar „auf Teufel komm raus“ (Seeger).