Atomkraftwerke: Trau keinem über dreißig

■  Grüner Fraktionschef Schlauch fordert in der taz Laufzeit unter 30 Jahren. Wirtschaftsminister Müller denkt über Abschaltung von AKWs bis 2002 nach

Berlin (taz) – Die Grünen lehnen sich gegen Kanzler Schröder und seinen Wirtschaftsminister auf. Vor der rot-grünen Koalitionsrunde zum Atomausstieg am Mittwoch beim Bundeskanzler forderten grüne Spitzenpolitiker aller Lager einmütig AKW-Laufzeiten von „deutlich unter 30 Jahren“ – andernfalls sei die Koalition gefährdet. „Wenn wir uns nicht auf weniger als 30 Jahre einigen, dann bräuchten wir gar keine Vereinbarung“, sagt der grüne Fraktionschef Rezzo Schlauch im taz-Interview. „35 Jahre – das wäre ein Zeitraum, in dem die Atommeiler ja sowieso auslaufen.“

Auch die Parteivorsitzende Gunda Röstel verlangte eine AKW-Restlaufzeit von unter 30 Jahren. „Die Leidensfähigkeit der Partei ist nicht grenzenlos“, sagte die Parteivorsitzende der Bild-Zeitung. Der grüne stellvertretende Vorsitzende des Umweltausschusses, Winfried Hermann, sagte, wenn die Ausstiegsfrist länger als 30 Jahre betrage, „bedeutet es das Ende der Koalition“.

Auch Bundesumweltminister Jürgen Trittin will deutlich schneller als nach 30 Jahren aussteigen und hält weiterhin einen Sonderparteitag der Grünen zum Ausstieg für nötig. Rezzo Schlauch lehnt diese Idee gegenüber der taz jedoch ab: „Ich halte überhaupt nichts davon, über einen Parteitag zu spekulieren, ohne daß ein Ergebnis bei den Konsensgesprächen vorliegt.“

Bundeswirtschaftsminister Werner Müller (parteilos) will hingegen eine AKW-Lebensdauer von 35 Jahren vertraglich festschreiben. Korrekturen seiner Vorschläge seien zwar denkbar, sagte Müller am Wochenende in Hannover. In der Frage der Laufzeiten sei man allerdings „nicht sehr verhandlungsfähig, weil wir noch sehr weit von den Vorstellungen der Betreiber entfernt sind.“

Bei einem früheren Einstieg in den Ausstieg, wie ihn die Grünen verlangten, sei er aber „nicht sehr pessimistisch“, sagte Müller. Das eine oder andere AKW könne sich schon in dieser Bonner Legislaturperiode, also bis zum Jahr 2002, als nicht mehr wirtschaftlich herausstellen. Auch Bundeskanzler Schröder soll bereit sein, bis dahin ein AKW abzuschalten. Eindeutiger Kandidat für ein etwas vorgezogenes Abschalten wäre das AKW Obrigheim, das als ältester bundesdeutscher Atommeiler bereits 31 Jahre gelaufen ist und mit einer Leistung von nur 350 Megawatt ein sehr kleiner Atommeiler ist. Bei den Grünen fürchtet man, daß Müller als weiteren vorzeitig abzuschaltenden Reaktor das nie in Betrieb gegangene AKW Mülheim-Kärlich im Auge hat, dessen Genehmigung erst im vergangenen Jahr vom Bundesverwaltungsgericht einkassiert wurde.

Bei einer Gesamtlaufzeit von 35 Jahren ginge in der Legislaturperiode 2002 bis 2006 überhaupt kein AKW vom Netz. Erst im Jahr 2007 würde mit dem 670-Megawatt-Reaktor in Stade der erste größere Meiler abgeschaltet werden. Trittin verlangte deswegen eine AKW-Lebensdauer von nicht über 28 Jahren, bei der neben Obrigheim und Stade auch der 1.200-Megawatt-Reaktor Biblis A genau im Wahljahr 2002 seine maximale Lebensdauer erreicht hätte.

Ein wenig Unterstützung erhielten die Grünen inzwischen vom niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Glogowski (SPD). Für ihn sind 35 Jahre Restlaufzeit ebenfalls nicht das Maß aller Dinge. Der Sozialdemokrat will vor der nächsten Bundestagswahl mehrere Atomkraftwerke abgeschaltet sehen. Jürgen Voges

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