Sozial, demokratisch, europäisch

Wie wird aus der Wirtschafts- und Währungsunion Europa eine Sozialunion? Indem die Sozialpolitiker sich ein Beispiel an den Währungspolitikern nehmen und die Vergemeinschaftung durch wirksame Problemlösungen vorantreiben    ■ Von Mark Schieritz

Mit der europäischen Integration verbinden viele Beobachter die Hoffnung auf eine gesamteuropäische Wiederherstellung des vom Überlebenskampf in der global vernetzten Ökonomie erschöpften demokratischen Wohlfahrtsstaates. Die Realität jedoch mußte diese Erwartung enttäuschen. Denn die sozialpolitische Reregulierung ist an legitimatorische Voraussetzungen gebunden, deren Existenz bisher nur der Nationalstaat garantierte. In seinem neuen Buch „Regieren in Europa. Effektiv und Demokratisch?“ geht Fritz W. Scharpf der Frage nach, inwieweit die „Mehrebenenpolitik“ der EU zur demokratischen Legitimation eines europäischen Wohlfahrtsstaates beitragen kann.

Scharpf, Direktor am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, beginnt mit einer Analyse der theoretischen Grundlagen demokratischer Legitimität. Input-orientierte Legitimationsvorstellungen (Authentizität) gehen in der Tradition Rousseaus davon aus, daß politische Entscheidungen dann legitim sind, wenn sie auf irgendeine Art und Weise aus dem „Willen des Volkes“ abgeleitet werden können. Die Output-Perspektive (Effektivität) dagegen hält solche politischen Entscheidungen für legitim, die auf wirksame Weise das fördern, was mit einiger Sicherheit als das allgemeine Wohl aller angesehen werden kann.

Der Wohlfahrtsstaat ist an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Dazu zählt vor allem die Bereitschaft seiner Bürger, sich besteuern zu lassen. Der Nationalstaat konnte die dafür erforderliche kollektive Identität schaffen.

Zwei Prozesse schränken diese Gestaltungsmöglichkeiten nationalstaatlicher Politik in der EU ein: Die wirtschaftliche Integration setzt den Nationalstaat einem Wettbewerb um mobile Produktionsfaktoren aus und entmachtet ihn dadurch faktisch. Die institutionelle Integration bindet den Staat in ein europäisches Institutionengeflecht ein und begrenzt dadurch seine politischen Handlungsoptionen. Demokratietheoretisch bedeutet der Verlust der Möglichkeit einer effektiven demokratischen Selbstbestimmung die Erosion der Legitimität nationalstaatlicher Politik.

Der Machtverlust der Mitgliedsstaaten ging einher mit einem Zuwachs der Befugnisse Brüssels. Die europäischen Institutionen nutzten die neugewonnenen Gestaltungsmöglichkeit aber vor allem, um interne Marktschranken abzubauen (negative Integration). Eine Politik der positiven Integration dagegen, die den erweiterten Handlungsspielraum der Gemeinschaft verwendet, um den Kompetenzverlust auf nationaler Ebene durch eine marktkorrigierende Reregulierung auf europäischer Ebene zu kompensieren, blieb bisher aus. Grund der sozialstaatlichen Zurückhaltung ist für Scharpf nicht der ökonomische Sachzwang des Weltmarktes: Vielmehr verhindern legitimatorische und institutionelle Defizite in der EU eine stärker interventionistische Nutzung des ordnungspolitischen Instrumentariums.

Nationalstaatliche Regulierungs- und Umverteilungsmuster, stellt Scharpf fest, verdanken ihre Existenz vor allem Input-orientierter Authentizität – einer Bindung der Bürger an das Gemeinwesen, welche die Auferlegung von Solidaritätspflichten legitimierte. Nur durch eine starke kollektive Identität verliert die Herrschaft der Mehrheit ihren bedrohlichen Charakter und kann Maßnahmen der interpersonellen und interregionalen Umverteilung legitimieren.

Auf der europäischen Ebene fehlen aufgrund der kulturellen, historischen, institutionellen und linguistischen Differenzen die Voraussetzungen eines Gemeinsamkeitsglaubens (Max Weber), von der der freiwillige Zwang (Offe) zur Solidarität ausgehen könnte (im Alltag: die Bereitschaft, sich für andere besteuern lassen).

Darin liegt die Crux: Während sich Kommission und Gerichtshof bei der negativen Integration auf die von allen Mitgliedsstaaten ratifizierten großen Verträge berufen können, ist die positive Integration von der Zustimmung der nationalen Regierungen und des Europaparlaments abhängig. Marktkorrigierende Interventionen sind wegen dieser harten Konsensvoraussetzung auf der europäischen Ebene nur schwer durchsetzbar: „Die europäische Integration ist am wirksamsten auf dem Gebiet der negativen Integration.“

Die identitätspolitischen Voraussetzungen einer europäischen Solidargemeinschaft sieht Scharpf, vor allem mit Blick auf die Osterweiterung, auch mittelfristig nicht gegeben.

Aus diesem Grund könne von einer partizipativen Demokratisierung der Union keine wohlfahrtsstaatliche Reregulierung auf europäischer Ebene ausgehen. Die Diskussion um die Stärkung des Europaparlaments greife deshalb zu kurz. Wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen, so Scharpf, können sich in Europa nur auf eine Output-Legitimation stützen, wie sie etwa in der Geldpolitik schon praktiziert werde: „ Im Prinzip kommt es auf die institutionelle Fähigkeit zu wirksamer Problemlösung an. Eine Weiterentwicklung des europäischen Rechts etwa könnte den ruinösen Systemwettbewerb zwischen der Mitgliedsstaaten ausschließen.“

Fritz W. Scharpf ist Pragmatiker. Im Gegensatz zu vielen Euro-Visionären und Integrationsskeptikern rückt er das jetzt und hier Machbare in den Vordergrund. Dennoch vertraut seine Analyse stellenweise allzu vordergründig auf die Macht von Ideen und Normen. Der „liberale bias“ (Streeck) internationaler Arenen hat aber immer auch mit handfesten Interessenstrukturen zu tun: Zwischenstaatliche Verhandlungssysteme zeichnen sich dadurch aus, daß sie sich gegenüber gesellschaftlichen Interessen, die den Staat als Umverteilungsinstrument verwenden wollen, immunisieren können.

Damit weist auch die Europäische Union die Merkmale vieler nationalstaatlich ungebundener Staatsformen auf: Deren Wertekatalog enthält fast immer ausschließlich Rechte und kaum Pflichten. Gesellschaftliche Macht- und Verteilungsverhältnisse oder gar Versuche ihrer Korrektur spielen in Theorien kosmopolitischer Demokratie so gut wie keine Rolle.

In hoch technischen Bereichen wie dem der Geldpolitik mag sich zudem die Frage nach der richtigen Politik noch einigermaßen apolitisch beantworten lassen. In steuer-, struktur- und beschäftigungspolitischen Politikfeldern bewegt sich eine rein „institutionelle Problemlösung“ wohl hart an der Grenze demokratischer Legitimität.

Kollektive Identität ist auch in Nationalstaaten nicht organisch gewachsen. Institutionen und Medien der EU können durchaus einen Beitrag zur europäischen Erweiterung der nationalen Wahrnehmungs- und Solidaritätshorizonte leisten. Die Möglichkeit einer moralischen Fundierung des europäischen Wohlfahrtsstaates in einer „postnationalen Identität“, wie sie Jürgen Habermas vorzeichnet, verwirft Scharpf etwas zu scharf.

Fritz W. Scharpf: „Regieren in Europa. Effektiv und Demokratisch?“. Campus Verlag, Frankfurt/Main 1999, 201 Seiten, 39,80 Mark