■ Das Blair/Schröder-Papier und der junggrüne Realoaufruf sind untaugliche Modernisierungsappelle. Plädoyer für den Sozialstaat
: Parvenüs und Kommunitaristen

I. Dem Kandidaten der Berliner SPD für das Amt des regierenden Oberbürgermeisters unterlief bei einer von Gerhard Schröder beehrten Wahlkampfveranstaltung ein bezeichnender, keineswegs freudscher Versprecher. „Auch ich komme“, so bekannte Walter Momper leicht verlegen, „aus sozialen Verhältnissen.“ Daß der Kandidat nicht die übliche Redewendung von den „kleinen Verhältnissen“ bemühte, belegt zweierlei: die immer noch große Scham der Parvenüs in einer vermeintlich nivellierten Mittelstandsgesellschaft und die um sich greifende Amnesie bezüglich dessen, was einmal „Sozialstaat“ hieß.

Beides, die Scham und die Amnesie, durchzieht auch das sogenannte Blair/Schröder-Papier sowie das grüne Positionspapier von Berninger/Özdemir. Beide Papiere zeichnen sich durch Inhaltslosigkeit, das modernisierungstheoretische Neusprech sowie eine entfesselte Wut gegen jene Organisationen, SPD und Grüne, aus, denen die Autoren und Unterzeichner ihren sozialen Status verdanken.

Otto von Bismarck und Ferdinand Lassalle, Sozialkonservative und Sozialdemokraten hatten noch einen Begriff von der Gesellschaft. Ihnen war – aus unterschiedlichen christlichen und philosophischen Positionen heraus – klar, daß ein politisches Gemeinwesen, in dem Armut und Ungleichheit auf Dauer gestellt sind, nicht nur für Revolutionen anfällig wird, sondern auch keiner Idee des Menschen und Bürgers genügen kann.

Der von ihnen erdachte und später im Kaiserreich, der Weimarer Republik und den ersten Jahren der Bundesrepublik umgesetzte Sozialstaat war immer mehr als bloß ein Instrument der Armenversorgung. Mit dem Sozialstaat wurden aus vormals Armen nun Wirtschaftsbürger, die ohne Scham und Demut einen legitimen Anspruch an ihr Gemeinwesen auf Solidarität hatten. Diesem Geist entsprangen Generationenvertrag und Solidarprinzip in Rente und Krankenversicherung, in diesen Institutionen steckt ebensoviel rationale bürokratische Verwaltung wie sozialistisches Genossenschaftswesen.

Den Parvenüs – und es ist kein Zufall, daß sie es sind, die innerhalb der Linken zum Angriff auf den Sozialstaat blasen – sind diese Zusammenhänge trotz persönlicher Bekenntnisse zu ihrer kleinbürgerlichen oder proletarischen Herkunft notwendig verstellt. Wer sich in gnadenlosen innerparteilichen Konkurrenzkämpfen nach oben gebissen hat, kann kaum anders, als sich den eigenen Erfolg persönlich zuzurechnen und von dort auf andere zu schließen.

Daß das immer mal wieder schiefgehen kann, erweist das Beispiel eines der Autoren des Blair/Schröder-Papiers, Bodo Hombachs, dessen Unbeliebtheit auf ebendiese Haltung sowie auf eine deutliche Neigung zum Protz zurückgehen dürfte. Sein Bekenntnis, in der SPD keine Freunde zu haben, ist dabei ebenso ernst zu nehmen wie die Beteuerung, daß beim Hausbau alles mit rechten Dingen zuging. So ungerecht ist die Welt: Niemand fragt reiche Erben, womit sie ihre Eigenheime bezahlen. Menschen jedoch, denen aller Anstrengung zum Trotz die „kleinen Verhältnisse“ noch aus den Knopflöchern der Designeranzüge und den Deckblättern der Cohibas lugen, geraten sofort ins Fadenkreuz des Verdachts.

Freunde zu haben, in erfüllenden zwischenmenschlichen Beziehungen und gelingenden Arbeitsverhältnissen zu stehen, das ist der Stoff, aus dem ein gutes Leben werden kann. Oskar Lafontaine hielt dies nach seinem Rücktritt ebenso trotzig wie überzeugend der Öffentlichkeit entgegen: mit seiner schönen und klugen Frau an der Seite und seinem Söhnchen auf den Schultern.

Diese Dynamik des guten Lebens nicht verstanden zu haben, ist einer der gewichtigsten Einwände gegen das Blair/Schröder-Papier und sein grünes Pendant. Mit der Forderung nach einer liberalen Familienpolitik hier sowie Anleihen bei der Sozialphilosophie des Kommunitarismus dort beuten diese Autoren starke Gefühle und gehaltvolle Theorien mißbräuchlich aus.

II. Adalbert Evers und Claus Leggewie glauben (in der taz vom 22. 6. 1999), wenn auch mit deutlicher Reserve, den Grundintentionen des Blair/Schröder-Papiers Unterstützung angedeihen lassen zu sollen. Und folgende problematische Zeilen zu begrüßen: „Allzu oft wurden Rechte höher bewertet als Pflichten. Aber die Verantwortung des Einzelnen in Familie, Nachbarschaft und Gesellschaft kann nicht an den Staat delegiert werden. Geht der Gedanke der gegenseitigen Verantwortung verloren, so führt dies zum Verfall des Gemeinsinns, zu steigender Kriminalität und einer Überlastung des Rechtssystems.“

Leggewie und Evers betonen zu Recht, daß Gemeinsinn, Vertrauen und Familie keine Fragen seien, die gleichsam natürlich zum Beritt der Konservativen gehören. Allerdings, wem es mit diesen Themen ernst ist, dem sollten sie auch zu teuer sein, um sie als billige Floskeln zur Rechtfertigung von Kürzungen im Sozialhaushalt zu verwenden.

Denn der besondere Wert glükkender Lebensformen hier und die Frage nach einem ausgeglichenen Staatshaushalt dort sind Fragen, die in keiner Weise innerlich miteinander zusammenhängen. Anders gesagt: Die Annahme, man bringe Menschen dazu, sich solidarischer zu verhalten, indem man soziale Leistungen kürzt, ist mindesten so abenteuerlich wie die Hoffnung, man könne durch bloße Appelle an Liebe und Vertrauen Geld sparen. Umgekehrt ist es jedoch sehr wohl möglich, daß – so auch das Familienurteil des Bundesverfassungsgerichts – gerade die Förderung glückender Lebensformen sogar zusätzliches Geld kostet und damit die öffentliche Hand belastet. Wie die Balance zwischen dem Anspruch auf Glück und dem Wunsch nach einem ausgeglichenen Haushalt am Ende aussieht, ist Gegenstand von Politik. Für die weitere Debatte sollte anerkannt werden: Ein automatischer Zusammenhang zwischen Staatshaushalt und zwischenmenschlichen Tugenden existiert nicht.

Auch Matthias Berninger versteht nicht, was es hieße, Sehnsucht in Politik umzusetzen. Die von ihm immer wieder erhobene Forderung nach einer „liberalen Familienpolitik“ blieb jedenfalls bisher ohne jeden Biß. Soll sich diese Forderung wesentlich von dem unterscheiden, was etwa das Zentralkomittee Deutscher Katholiken in respektabler Weise seit Jahren fordert, so muß er mehr meinen als eine stärkere Förderung von Familien. Es wäre dann als erstes zu fordern, alle Verhältnisse, in denen Kinder leben, parteilich, gezielt und eindeutig zu verbessern – womit schon heute ein Teil der geplanten Kürzungen im Sozialhaushalt entfallen würde. Eine Million Kinder in Armut sind zuviel – eine liberale Familienpolitik hätte dafür zu sorgen, daß überhaupt keine Kinder mehr in Armut leben.

Es wäre als zweites die rechtliche Gleichstellung aller Lebensverhältnisse zu garantieren, in denen Menschen durch dauerhafte, staatlich anerkannte Bindung ihr Glück zu finden glauben. So wird die Homoehe erweisen, wie ernst es mit der liberalen Familienpolitik gemeint ist. Ist diese Politik bereit, die volle Gleichstellung massiv einzufordern – bis hin zu erheblichem Streit in der Koalition? Leben, freundschaftliches oder eheliches Leben mit Kindern, bedarf des Raumes, bezahlbaren Wohnraums. Wo bleiben Initiativen zu einem neuen sozialen Wohnungsbau, der Menschen, die in größeren oder auch kleineren Gruppen, kreuz und quer über die Generationen gemeinsam (noch so ein kommunitaristisches Wort) wohnen wollen: Genossenschaftsmodelle, massive Steuererleichterungen und niedrigzinsige Kredite für entsprechende Experimente? Ein neuer sozialer Wohnungsbau, der zudem noch heilsame Impulse für die kränkelnde Bauwirtschaft ausstrahlen könnte?

Anstatt dessen: Schlagworte und Appelle. Bisweilen täte diesen Modernisierern ein Schuß Materialismus ganz gut: „Ich sage Ihnen, ich habe es satt, tugendhaft zu sein, weil nichts klappt, entsagungsvoll, weil ein unnötiger Mangel herrscht, fleißig wie eine Biene, weil es an Organisation fehlt, tapfer, weil mein Regime mich in Kriege verwickelt. Kalle, Mensch, Freund, ich habe alle Tugenden satt und weigere mich, ein Held zu werden.“ Ziffels Stoßseufzer aus Brechts Flüchtlingsgesprächen erweist sich als nach wie vor aktuelles Kriterium zur Beurteilung aller Versuche moralischer Aufrüstung aus Gründen der Haushaltsdisziplin.

Micha Brumlik

Der Sozialstaat war immer ein Versprechen von mehr GerechtigkeitWer verhält sich solidarischer, wenn ihm die Unterstützung entzogen wird?