Wenn der Geist hörbar wird

„Sau rauslassen“: Beim Kendo geht es um die Einheit von Geist, Schwert und Körper. Im Gegensatz zu anderen Sportarten erreicht man wahre Meisterschaft erst im Alter   ■  Von Carsten Beyer

Mit markerschütternden Schreien, die langen Bambusschwerter hoch über den Kopf erhoben, gehen die beiden Kapuzenmänner aufeinander los. Ein kurzer Schlagabtausch, dann kehren die Kämpfer wieder in ihre Ausgangspositionen zurück. Immer wieder geht das so, bis schließlich einer von beiden zwei Wertungstreffer erzielt hat. Dann ist der Kampf beendet. Beide verneigen sich höflich, nehmen ihre Schutzmasken ab und verharren eine Weile reglos im Schneidersitz.

Hier wird nicht etwa ein japanischer Actionfilm gedreht; die Schwarzkittel sind Kendoka der Ersten Deutschen Kendo Gesellschaft (EDKG) beim Training. 20 Kämpferinnen und Kämpfer kommen regelmäßig zu den Übungseinheiten in die kleine Schulturnhalle im Berliner Bezirk Tempelhof; auffällig viele von ihnen haben die Dreißig bereits deutlich überschritten.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Kampfsportarten verhält es sich mit einem Kendokämpfer wie mit der berühmten „guten“ Flasche Wein : „Je älter, desto besser.“ Das meint zumindest Rainer Hitkowski, Cheftrainer der EDKG und als Träger des siebten Dan, des siebten Meistergürtels, höchstdekorierter deutscher Kendoka. Mit seinem wallenden grauen Bart ist er selbst der beste Beweis für diese Behauptung. Hitkowski ist 58. Seit mehr als drei Jahrzehnten betreibt er den Sport, ungezählte Meistertitel hat er dabei errungen. Gegen seine wuchtige Gestalt und den sonoren Baß seiner Kampfschreie wirkt selbst Box-Opa George Foreman noch wie ein Schulbub.

Aus dem aktiven Kampfgeschehen hat sich Hitkowski allerdings zurückgezogen. Bei nationalen und internationalen Titelkämpfen fungiert er nur noch als Kampfrichter oder Berater. Bei den jüngsten Europameisterschaften im französischen Lourdes, wo das deutsche Männerteam mit dem zweiten Platz hinter Frankreich das beste Ergebnis seit Jahren erzielte, konnte er gar nicht mit dabei sein.

Dennoch würde Hitkowski im Kampf gegen einen der frischgebackenen Vize-Europameister keine schlechte Figur machen: Kendokämpfer können die abnehmende körperliche Leistungsfähigkeit durch ihre psychische Entwicklung ausgleichen.

Japan ist das Herkunftsland des Kendo. Dort wird der Sport von vielen Millionen Menschen praktiziert. Und es wundert niemanden, wenn ein Weltmeister gegen seinen alten Lehrer unterliegt.

Dabei ist Kendo alles andere als ein Sport für sanfte Gemüter. „Im Wettkampf geht es wirklich Körper gegen Körper, da geht man nicht immer pfleglich miteinander um, weil man gewinnen will“, sagt Hitkowksi. „Man entschuldigt sich später zwar, weil man etwas eigentlich nicht wollte. Aber das ergibt sich.“

Daß ein Kendo-Veteran dennoch gegen einen jugendlichen Haudrauf bestehen kann, hat vor allem mit der besonderen Philosophie des Sports zu tun: Treffer ist nämlich nicht gleich Treffer. Auf das Wie kommt es an.

Anders als im europäischen Fechtsport, wo das Aufleuchten einer elektronisch gesteuerten Anzeige Treffer für Kämpfer und Zuschauer eindeutig signalisiert, ist die Wertung beim Kendo ganz den Kampfrichtern überlassen. Und die sind streng. „Ki-Ken-Thai-Itchi“ heißt die Zauberformel, die alles kompliziert. Das bedeutet: Zufallstreffer gibt es nicht, im Moment des Auftreffens des Schwertes muß eine „Einheit von Geist, Schwert und Körper“ gegeben sein. „Der Schlag muß Tenouchi haben, er muß vom Körper des Gegners zurückfedern“, sagt Hitkowski.

In der Urform des Kendo, im Schwertkampf der japanischen Samurai, war dies überlebenswichtig. Wurde ein Schlag zu ungestüm ausgeführt, konnte es passieren, daß das Kampfgerät im Körper des Gegners steckenblieb oder gar abbrach. Heute, da die scharfen Schwerter von einst durch das Shinai ersetzt sind, einen Stock aus Bambus oder Karbon, sind Elastizität und Verve eines Schlages nicht mehr so einfach festzustellen.

Korrekte Körper- und Schwerthaltung, das kann der Kampfrichter noch beurteilen, wie aber macht man sichtbar, daß auch der Geist voll bei der Sache ist? „Man schreit ihn heraus“, sagt Hitkowski. Kendo sei „eine Urschreitherapie“. Das Schöne: „Da kann man so richtig die Sau rauslassen.“

Bei der Ausführung eines Men etwa, dem Hauptschlag im Kendo, der gegen den Kopf des Gegners gerichtet ist, muß der Kämpfer ein lautes und vernehmliches „Men“ von sich geben, eine Bekundung seiner Willenskraft. „Ein einziger Schrei, ein einziger Moment, in dem die ganze Raum-Zeit-Dimension des Kosmos liegt“, so definiert der Zen–Weise Deshimaru den Kiai, den Kampfschrei der Kendoka, der dem Sport sein martialisches Image eingetragen hat.

Trotz des wilden Auftretens der Kendoka gehört das Stockfechten zu den Sportarten mit der geringsten Verletzungshäufigkeit. Der Sportmediziner Paul Forstreuther sieht in dem Sport einen positiven Gesundheitsfaktor für ältere Menschen. „Mit dem Kendo hat man nicht nur die Möglichkeit einer psychischen Weiterentwicklung und Förderung der Konzentrationsmöglichkeit, sondern es unterstützt auch von der körperlichen Seite her die Fitneß bis ins hohe Alter.“

Forstreuther muß es wissen, schließlich hat er selbst mit 44 noch an einer Weltmeisterschaft teilgenommen. Heute ist er 50 und trainiert noch regelmäßig bei der ersten Mannschaft der EDKG.

Gezielt Mitglieder im Seniorenbereich wollen die Kendoka allerdings nicht werben. Nur wer den Sport wirklich sein ganzes Leben lang betrieben hat, kann auf die wahre Meisterschaft im Alter hoffen. So wie der japanische Kendoka, bei dem Rainer Hitkowski in den 70er Jahren eine Zeitlang in die Lehre ging. Weit über 80 war der Meisterkämpfer damals und hatte gerade den achten Dan erworben. Als er das Shinai für immer aus der Hand legte, war noch ein weiterer Meistergürtel hinzugekommen. Den zehnten Dan, den Budo-Olymp, hatte er aber auch mit 94 noch nicht erreicht.