Grüne suchen Boden

Die Atomkonsensgespräche heute abend dienen vor allem der Beruhigung der Parteibasis  ■    Von Jürgen Voges

Hannover (taz) – Den Durchbruch zum Atomausstieg darf man von der Koalitionsrunde nicht erwarten, zu der heute abend SPD und Grüne aus dem Kabinett, den Bundestagsfrakionen und der grünen Parteispitze zusammenkommen. Alle Beteiligten wollen inzwischen die Konsensverhandlungen mit den AKW-Betreibern erst nach dem Sommer fortsetzen.

Ungeachtet der Differenzen in der Sache sind die Schlagzeilen über eine Koalitionskrise auch als öffentliche Inszenierung eines Konflikts zu verstehen, mit dem die Grünen bei ihrer schwindenden Wählerbasis Terrain zurückgewinnen wollen. Zum Sommerdauerthema soll die angebliche Regierungskrise nicht werden, und vor allem dafür soll die Koalitionsrunde sorgen. In den Koalitionsverhandlungen hatten SPD und Grüne noch einen Atomausstieg in drei Schritten vereinbart. In einer Atomgesetznovelle sollten unter anderem der Ausstieg als Ziel gesetzlich festgeschrieben, die Wiederaufbereitung beendet und eine zusätzliche Sicherheitsüberprüfung aller AKW angeordnet werden.

Diese Gesetzesänderung sollte für den nötigen Druck beim zweiten Schritt, den Konsensverhandlungen mit den AKW-Betreibern über die Restlaufzeiten, sorgen. Im dritten Schritt sollte der Ausstieg selbst durch eine gesetzliche Befristung der Betriebsgenehmigungen „entschädigungsfrei geregelt werden“. Auch dieses Vorhaben sollte den Druck auf die AKW-Betreiber erhöhen. Damit stand die Drohung im Raum, daß der Gesetzgeber bei einem Scheitern der Konsensgespräche allein die Ausstiegsfristen festlegen würde.

Faktisch ist inzwischen von diesen drei Schritten nur einer geblieben: die Atomkonsensverhandlungen von Wirtschaftsminister Werner Müller. Die erste Atomgesetznovelle, die Umweltminister Trittin mehrfach ins Kabinett einbrachte, hat Kanzler Schröder schon Anfang des Jahres gekippt, nachdem die Energieversorger ihm einen Boykott der Konsensverhandlungen und Probleme beim Bündnis für Arbeit androhten. Mit dem dritten Schritt, dem Ausstieg per Gesetz, drohen nicht einmal mehr die Grünen.

Aus der in diesem Schritt vorgesehenen zeitlichen Befristung der Betriebsgenehmigungen ist in Müllers Konsensvorschlag nun eine gesetzliche Bestandsgarantie geworden: Erst nach 40 Vollastjahren, also über 50 Jahre nach Inbetriebnahme der AKW und damit jenseits ihrer Lebensdauer, sollen die Betriebsgenehmigungen ihre Grenze erreichen. Weil diese Befristung faktisch ohne Bedeutung ist, schlug er folgerichtig vor, er könne auch ganz auf eine gesetzliche Regelung verzichten. Aber auch der Atomkonsensvertrag, den Müller weitgehend mit den vier großen AKW-Betreibern ausgehandelt hat und der jedem bundesdeutschen AKW eine Gesamtlaufzeit von 35 Jahren zugesteht, folgt der Logik der Energieversorger: Er will das „geordnete Auslaufen bestehender Kernkraftwerke verwirklichen“.

Beendet wäre dieses Auslaufen 2024 mit der Stillegung des AKW Neckarwestheim II, das 1989 als letzter Meiler ans Netz ging. Beginnen würde es erst in der nächsten Legislaturperiode, wenn 2003 das AKW Obrigheim und 2007 Stade die 35 Jahre Lebensdauer erreicht haben. Wenn Müller jetzt die Stillegung des einen oder anderen AKW vorzieht, ansonsten aber an der Lebensdauer von 35 Jahren festhalten will, könnte diese zur Folge haben, daß Obrigheim und Stade schon bis 2002 vom Netz müßten. Dafür würde allerdings bis 2009, wenn Biblis A die 35 Betriebsjahre erreicht, keine weitere Stillegung auf dem Plan stehen.

Gegen Stade und Obrigheim richtet sich auch ein Gutachten der Grünen, das den Reaktoren die Wirtschaftlichkeit abspricht. Die weitergehende Forderung der Grünen, mit der Laufzeit „deutlich unter 30 Jahre“ zu gehen, würde erst ab einer Lebensdauer von 28 Jahren dazu führen, daß neben Obrigheim und Stade auch Biblis A bereits 2002 abgeschaltet werden müßte. Der Energiekonzern RWE hat für den Fall einer frühen Stillegung in Biblis mit demAusstieg aus dem Konsens gedroht.

Die inhaltlichen Argumente von Atomkraftgegnern, als die sich ja auch die Grünen bisher sahen, spielen im Poker um Restlaufzeiten keine Rolle. Der erste Gesetzentwurf von Trittin, der noch auf die vorhandenen Risiken eines AKW-Unfalls verwies, ist endgültig in der Versenkung verschwunden. Niemand redet etwa über die Stillegung des AKW Krümmel, bei dem die medizinischen Daten aus der Umgebung auf das Risiko für den Menschen verweisen. Das ungelöste Entsorgungsproblem taucht nur noch in der Debatte über Transporte auf, bei denen die AKW-Betreiber nicht die Einhaltung der Grenzwerte garantieren können. Die Denkpause, die die Grünen jetzt wollen, könnte immerhin diesen Umstand der Energiewirtschaft wieder ins Gedächtnis rufen und so vielleicht die Bereitschaft zu Zugeständnissen fördern.