Verteidiger und Verbrecher

■ Das Theaterprojekt „La Grande Vie“ spielt in der Justizvollzugsanstalt Lichtenberg mit Klischees und Paragraphen

Unter dem etwas unglücklichen Titel „Gesetz und Begierde“ bringt die zweite Inszenierung des Theaterprojektes „La Grande Vie“ in der Justizvollzugsanstalt Lichtenberg zwei Welten zusammen. Juristen sind für Gefangene sonst stets Ausleger und Vollstrecker von Gesetzen. Gesetzesbrecher und Straftäter sind die Gefangenen in den Augen der Juristen.

Die Rollen sind klar verteilt. Sie sitzen an entgegengesetzten Enden der Gesetzesnorm. In Lichtenberg nun stehen inhaftierte Frauen mit Jurastudenten gemeinsam auf der Bühne, und die Trennungen verwischen. Schon das Anfangsbild gibt das Thema vor. Im hölzernen Geviert der Bühne, halb amerikanischer Gerichtssaal, halb Tanzfläche aus den Fünfzigern, stehen Paare zusammen und unterhalten sich leise. Je ein Mann und eine Frau, elegant gekleidet. Anwalt und Mandantin. Student und Gefangene. Doch plötzlich schwindet diese Gewißheit. Wer füllt hier welche Rolle aus? Die Paare sind ebenso wahrscheinlich Anwältin und Klient, Verteidigerin und Verbrecher. Oder einfach Gäste einer Cocktailparty? Das Spiel beginnt. Die Paare lösen sich auf, stellen sich einzeln vor als fiktive Charaktere eines Kongresses. Illustre Namen wie Sid Vicious, Robin Norwood, Sarah Kane sind darunter. Die Charaktere sind von den Darstellern selbst gewählt und bieten sowohl einen schützenden Mantel als auch Projektionsfläche für verborgene Wünsche. Reale und erdachte Biographien vermischen sich. Als Klaus Kinski sagt der Jurastudent: „Ich brauche Liebe.“ Eine Gefangene tanzt in einem ausladenden Ballkleid als Romy Schneider.

Diese Charaktere erweisen sich jedoch als bloße Anschnitte. Die Projektionen sind Schubladen, die nicht gefüllt werden. Der gebotene Anblick ist nicht immer eindeutig. Das verwirrt, und auch darum geht es. Die Zuschauer, die mit Erwartungen über Knackis und Knastalltag kommen, werden nicht bedient. Sie müssen sich ihre Wahrnehmung im ambivalenten Spiel mit Klischees und persönlicher Realität ständig neu erarbeiten. In einer Szene werden männliche Rinder von Löwinnen gejagt und gerissen. Ein ohrenbetäubendes Gemuhe und Gefauche auf der Bühne, höchst körperlich. Am Ende liegen Jäger und Gejagte erschöpft keuchend am Boden. Und obwohl eigentlich komisch, wird auch dort mit der Schablone der Verbrecherin gespielt.

Kernstück der Aufführung sind Paragraphen des Strafgesetzbuches, die von den Darstellern im Chor rhythmisch skandiert werden. „Eine Straf-tat versucht, wer nach seiner Vor-stellung von der Tat zur Verwirk-lichung des Tat-bestandes unmittelbar an-setzt!“

Der martialisch exerzierte Gesetzestext wird verschränkt mit persönlichen Äußerungen: „Maus, 22, sucht Mäuserich zum Schreiben.“ Juristendeutsch steht neben der Sprache der Inhaftierten, neben einem Lied, einem Gedicht. Das bedeutet kein Abgleiten in Klischees von bösen Juristen und unschuldigen Gefangenen. Das Theater fragt nach den Konflikten, die entstehen, wenn das Imperative einer Norm mit der subjektiven Glückssuche des Einzelnen kraß kollidiert. So arbeitet die Inszenierung mit starken Kontrasten.

Kompakt, hart gegeneinandergefügt: „Gesetz und Begierde“ ist auch die Dokumentation einer Begegnung, die außerhalb dieses Projektes nicht stattgefunden hätte. „Die werden bestimmt mal sehr gute Pflichtverteidiger“, sagt eine Darstellerin von innen über die von außen, „weil sie mal einen Knast kennengelernt haben.“ Die Arbeit von „La Grande Vie“ hat nach dem letzten Stück im Dezember neben Form auch an Dimension gewonnen.

Da die Vorstellungen heute und morgen in der JVA Lichtenberg nur intern zugänglich sind, ist im Herbst eine öffentliche Aufführung an der Volksbühne geplant. Holger Zimmer