Nicht rücksichtsvoll den Mund halten

betr.: „Hängen oder Nichthängen“, taz vom 2. 7. 99

Ich kann Jürgen Gottschlichs Analyse der Situation nach der Verurteilung Öcalans in der Türkei und auch der „Vorgeschichte“ nur zustimmen. [...] Allerdings sind die Schlußfolgerungen, die Gottschlich aus der relativ moderaten Art der Prozeßführung zieht, meines Erachtens zu optimistisch.

Endlich soll nun die Debatte neu eröffnet, das Problem wieder auf den Tisch gebracht worden sein und dicht vor einer Lösung stehen? Ein Neuanfang gemacht werden? Das sehe ich nirgends. Auch die derzeit vergleichsweise stabile Regierungskoalition wird in den Grundfragen der Türkei, die Gottschlich richtig benennt – Umgang mit der kurdischen (nationalistischen) Bevölkerung, Verhältnis zu Europa, Demokratisierung und Verhältnis zum politischen Islam – keine wirklich bahnbrechenden Entscheidungen treffen. Selbst wenn sie sich nun ernsthaft darum bemühen sollte, weshalb sollte sich die „Vernunft“ (G.) durchsetzen? Die Vorzeichen der ultranationalistischen Koalition (und der altbekannten politikbestimmenden Kräfte) stehen, wie schon mehrfach in der türkischen Geschichte, auf Härte, Verbot, radikalem Plattwalzen des „links“ und „rechts“ der „laizistischen“ oder besser kemalistischen Mitte nicht Duldbaren. Verbotsverfahren gegen Fazilet Partei wie Hadep, inhaftierte Menschenrechtler, Skandal um den (islamistischen) „Umstürzler“ Fethullah Gülen und Richtung Europa die Warnung: Wir lassen uns von euch nicht reinreden, haltet endlich mal den Mund. Eben dies fordert auch Gottschlich, um der „historischen Diskussion“ Raum zu geben.

Ich muß ihm recht geben, der moralische Zeigefinger ist angesichts des auf der Rechtsbasis der Türkei gefällten Urteils und des Verkaufs von Kampfhubschraubern und der Lizenz zum Bau derselben an die Türkei denkbar unangebracht, und die nachträgliche Forderung, dieses Urteil nicht zu vollstrecken, kann jahrzehntelange Politik der Doppelzüngigkeit und Hinhaltetaktik nicht wettmachen. Gejammer, daß das innere Sicherheitsrisiko, das man gerade zu vermeiden hoffte, indem Öcalan nicht nach Deutschland geholt wurde, als dazu Gelegenheit bestand (und man ein Todesurteil hätte umgehen können), nun doch besteht, ist ebenso unangebracht, obwohl die allem Anschein nach unkoordinierten und nicht zentral befehligten Brandanschläge, wie Gottschlich ebenfalls feststellt, zweifellos unbedingt unterbleiben müssen - auch im Sinne der PKK. Die augenblicklichen, nach G. so hoffnungsvoll entscheidenden, Entwicklungen in der Türkei müssen jedoch meines Erachtens dazu führen, daß Europa gerade nicht rücksichtsvoll den Mund hält, sondern sich wesentlich nachdrücklicher als bisher – hier ist die neue Bundesregierung gefragt; Herr Fischer, machen Sie nicht noch im Juli einen Abstecher in die Türkei? – auch auf EU-Ebene um klare Signale nach Ankara bemüht. Vielleicht ist es müßig, mehr Wahrhaftigkeit in der Politik zu fordern – in diesem Fall muß meiner Ansicht nach aber an die Stelle des jahrzehntelangen „Spielchens“ mit der Türkei eine klare Interessenartikulation und konkrete Forderungen (statt schwammiges Gelaber von Hausaufgaben und vordergründigem Menschenrechtsgetue) mit konkreten Kooperationsangeboten treten, denn der Einfluß der EU-Politik auf die Wege, die die Türkei zur Lösung ihrer drängenden Grundfragen beschreiten wird, ist kein geringer! Kathrin Eith, Bonn