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: Das Geheimnis des Seehundbabys

Einer der Höhepunkte des Kinojahres 1993 war der Film Passion Fish des bedeutenden US-amerikanischen Independents John Sayles. Der Höhepunkt dieses Films war eine Bootsfahrt durch die Sümpfe Louisianas, inszeniert als grandioser sinnlicher Rausch. In einem Interview erklärte Sayles, häufig „übe“ er schon für seinen nächsten Film, indem er in einer Szene dessen Stilmerkmale vorwegnehme. Und sein nächster Film spiele in Irland, die Bootsfahrt sei die Übung. Nichts weniger als ein Versprechen. Eines, das er gehalten hat. Herausgekommen ist The Secret Of Roan Inish.

Wer sich nun allerdings eine bewegte Postkarte vorstellt, die erneut ein klischiertes Irland reproduziert, wer an ausschweifende Flüge über saftige grün-grüne Wiesen denkt, befindet sich im Irrtum. Vielmehr darf man eintauchen – zu Beginn ganz wörtlich – ins Leben und in die Sagen der Inselbewohner und erlebt auf diese Weise die Landschaft als zweierlei bedeutsamen Raum, schließlich sogar als Akteur. So werden weder die Schönheit noch der Zuschauer von selbiger erschlagen.

Nach dem Tod ihrer Mutter kommt das kleine Mädchen Fiona Coneelly zu ihren Großeltern, die an der Westküste Irlands leben. Die Familie hat eine bewegte Vergangenheit hinter sich, Stoff für lange Erzählabende am Kamin. Es geht um die Insel Roan Inish, die die Coneellys während des Zweiten Weltkriegs verlassen mußten, und um das geheimnisvolle Verschwinden von Fionas Bruder Jamie auf offenem Meer, entführt und bewahrt von Seehunden. Und regelmäßig – so will es die Legende – kommt Jamie nach Roan Inish, unbewohnt seit den Tagen der Flucht, zurück.

Nun beginnt die kindliche Protagonistin, dieser Legende nachzuspüren, zum einen in „Rückblenden“, die diese und weitere Erzählungen illustrieren, zum anderen durch Fionas eigenmächtige Ausflüge zum magischen Ort Roan Inish, die sie Stück für Stück von der Wahrheit des Mythos überzeugen. Und der Regisseur gebärdet sich dabei nicht etwa als überlegen, als „Erwachsener“ im schlechtesten Sinne, sondern unterstützt ebenso ernsthaft, eifrig und neugierig wie seine Heldin deren Bemühungen. Die Ergebnisse sind schließlich wunderbar, und wer nicht jedes ungewöhnliche, scheinbar naive Bild automatisch lächerlich findet, wird in dieser Hinsicht von Sayles' Konsequenz überwältigt sein.

Den Titel The Secret Of Roan Inish hat der Verleih in hiesigen Kinos zu Das Geheimnis des Seehundbabys verwurstet, und neben der faustdicken Lüge, hier stünde „das Seehundbaby“ im Mittelpunkt, ärgert daran besonders, daß hier qua Titel offensichtlich ein Kinderfilm daraus gemacht werden soll. Das ist zwar keine Beleidigung, sicher aber eine sträfliche Beschneidung.

Sven Sonne