Ein couragiertes Luder

■ Nacht-Kantine im Schauspielhaus: Barbara Frey inszeniert Irmgrad Keuns „Das kunstseidene Mädchen“ mit Inka Friedrich

Der große Saal des Schauspielhauses mit den leeren Rängen lag am Samstag abend im Dunkeln. Das Publikum wurde in ein beleuchtetes Abseits unters Dach geführt. In einer Nebennische im zweiten Rang hatte eine Schar von Zuschauern auf ausgedienten S-Bahn-Bänken Gelegenheit, Doris kennenzulernen. Das kunstseidene Mädchen hatte sich hier oben in ihrer weltverweigernden Sinnlichkeit eingerichtet.

Doris ist ein couragiertes Weib, ein kleines Luder, der es in der Kleinstadt der 20er Jahre zu eng ist. Hubert hat sie mit 16 Jahren entjungfert – was ihr gut gefallen hat. „Meine Haut hat sofort Ja gesagt“. Daß Hubert sie nicht heiraten will, kann sie hinnehmen, daß er sie belügt, weil er eine gut Betuchte will, durchschaut sie mißbilligend.

Wie auch Herrn Grönwald, ihren Chef, von dem sie so durchlässig erzählt. Wenn er an ihrem grünen Kleidchen klebt, macht sie den Rücken gerade und die Klappe auf. Nein, Herr Grönwald, sie möchte nämlich „ein Glanz“ werden, eine große Dame.

Aus Mutters Theatergarderobe „leiht“ sie sich einen Nerz aus und taucht unter in Berlin. Sie trudelt ab in die Bars mit den Herren, in viele verheiratete Betten reicher Gönner. Wenn deren Damen doch zurücckehren, wohnt sie wieder in ihrer Mansarde und hofft, daß „vollschlank nicht irgendwann in Mode kommt“. Denn die Herren laden eine Dürre für viel Geld gern zum Champagner ein, aber wenn sie ein kleines Essen bezahlen sollen, fühlen sie sich gleich ausgenutzt.

Inka Friedrich schlägt sich als Doris eine gute Stunde lang durch die Berliner Bohéme. Sie macht das so hauchzart, daß man die Herren verstehen kann. Das gewiefte Biest verschafft sich seine kleinen Vorteile. Mal ein Dessous, mal eine Uhr, mal eine Woche bei „dem dunkelblauen Verheirateten“ baden und essen. Ihre Chancen verliert sie nicht aus den Augen. Entweder ich werde „ein Glanz“ oder „eine Hulla“, die Nachbarin mit dem von ihrem Luden verbeulten Gesicht.

Die lakonischen Bekenntnisse zur Lust im Kunstseidenen Mädchen, das Barabra Frey auf der Grundlage von Irmgard Keuns Roman aus dem Jahr 1931 inszenierte, gingen in der schummrigen Ecke neben der großen Bühne schön unter die Haut. Elsa Freese