Vom Boulevard zum Bauern

Unter den Linden entwickelt sich kulinarisch ein großstädtisch-mediterranes Ambiente. Wer hingegen die märkische Ruhe schätzt, dem sei jenseits der Stadtgrenze die Linde empfohlen  ■ Von Eberhard Schäfer

Das sonnengebräunte Publikum nippt an Wein- und Wassergläsern, das Lokal ist in goldfarbenes Licht getaucht. Milde Sommerabendstimmung. Und das, obwohl die Mittagssonne grell vom Himmel sticht. Die Markise macht's: Der gelbe Sonnenschutz verleiht der Bistro-Brasserie Wein & Co erholsame Oasenatmosphäre. Am verkehrsumtosten Boulevard Unter den Linden, genauer zwischen Friedrichstraße und Humboldt-Uni, stellt dieses Etablissement den – gelungenen – Versuch dar, der steinernen Prachtstraße etwas von ihrer preußischen Strenge zu nehmen. Da rühren Busineßleute am Stehtisch lässig im Cappuccino, und Touristen an den Trottoirtischen verdrücken belegte Baguettes (um 6 Mark). Die Wände des Lokals sind schwarzweiß gekachelt, der Tresen ist aus massivem Holz getischlert, weiter hinten kann der Gast auf einer gepolsterten Bistrobank mit hoher Lehne bequemer sitzen, frühstücken (ab acht Uhr), lunchen (zum Beispiel: Kaßler mit Kümmeljus und Sauerkraut für 15,50 Mark) oder sich jederzeit Antipasti aus der Vitrine servieren lassen. Legeres, großstädtisch-mediterranes Ambiente.

Auf das Eigentliche dieses Lokals aber weisen die ungezählten Weinflaschen in den gediegenen Holzregalen hin: Nicht weniger als 200 Weine sind hier flaschenweise zu haben, 70 der kundig zusammengestellten Tropfen kann man aus 0,1-Liter-Gläsern degustieren, und das zu allerfairsten Preisen. Sieben Mark etwa für ein Gläschen vom extraordinären Côtes du Rhone von Guigal, gar nur fünf für den üppigen Mas Collet aus Tarragona – das ist ein hauptstadtweit kaum zu schlagendes Preis-Genuß-Verhältnis.

Jenseits der Friedrichstraße, nur dreihundert Meter weiter Richtung Brandenburger Tor, haben wir das Gravitationsfeld des kommenden Regierungsviertels betreten: Plötzlich ist man umgeben von Massen mittelalterlicher Herren, die korrekt gekleidet und mit Aktenköfferchen den Boulevard entlangeilen. Von den Rattanstühlen, die vor dem Bistro Dressler auf dem Bürgersteig plaziert sind, kann der Flaneur diese wichtigen Menschen ebensogut beobachten wie die gelangweilten Schülergruppen sowie die Landfrauen aus Ostwestfalen, die sich, allesamt stadtplanbewaffnet, den Weg zu Berlins Wahrzeichen bahnen.

Sonnenbrillen mit winzigen nachtblauen Gläsern sind offenbar die Mode dieses Sommers. Menschen jeder Schicht tragen sie auf der Nase oder in die Stirn geschoben. Letzteres ist bei älteren Herren mit lackierten Haaren besonders häufig zu beobachten. Von denen sitzen nicht wenige vor dem Dressler. Für das zahlungskräftigere Publikum hält das Lokal selbstverständlich weißgedeckte Tafeln im Schutz der Fassade bereit. Wer will, kann sich hier beispielsweise mit gebratenem Kaninchenrücken auf Safrannudeln mit glasierten Teltower Rübchen (35 Mark) stärken oder, preiswerter, mit mariniertem Tafelspitz mit Traubenkernöl (16 Mark). Dazu ist man jedoch auf önologische Allerweltsware angewiesen, einzig der Silvaner vom fränkischen Juliusspital (9,50 Mark für 0,2 Liter) ragt aus dem beliebig zusammengewürfelten Weinangebot heraus.

Der Service ist nicht eben flink. So bleibt den fleißigen Beamten, die beim Cappuccino Aktennotizen verfassen, genügend Zeit zum Arbeiten, ebenso wie dem Flaneur zum Schauen. „Es hat lang gedauert“, entschuldigt sich die junge Kellnerin. Da hat sie recht.

Beim Warten auf die Rechnung gehen einem verwegene Gedanken durch den Kopf. Zum Beispiel der, daß man all dem hauptstädtischen Gebrumm, der Geschäftigkeit und den Goldknöpfen den Rücken kehren und statt dessen die Ruhe des Landes und den Charme eines dörflichen Wirtshauses suchen könnte.

Also rein ins Cabriolett, die Liebste abgeholt und flugs auf von den Linden zur Linde ins märkische Wildenbruch, ganze 45 Autominuten vom lärmenden Boulevard entfernt. Der Kulturschock kommt wie immer beim Verlassen der Autobahn: Man wähnt sich nicht nur zwanzig, sondern zweitausend Kilometer von der Großstadt entfernt. Das Idyll ist so stereotyp wie ergreifend. In der Dorfmitte, neben der leicht brüchigen Kirche, das Gasthaus an der holprigen Kopfsteinpflasterstraße: Ein unscheinbares Hofgebäude mit hoher Durchfahrt. Dahinter lockt eine sonnige Wiese mit riesigen, biergartengerechten Kastanienbäumen. Auf der Terrasse speist man. Auch hier auffällig viele Minisonnenbrillen. Egal. Man ordert ein Bier als Aperitif, um sodann etwas abgekühlt die Speisekarte zu studieren. Keine Haute Cuisine, sondern eine erdverbundene Küche mit Produkten von Landwirten aus den umliegenden Dörfern, dazu ein paar mediterrane Einsprengsel, so läßt sich das Konzept charakterisieren. Freundliche Kellner servieren zunächst einen knackigen, aromatischen Wildkräutersalat (die Riesenportion für 16 Mark), um den uns alle märkischen Karnickel beneiden werden. Zum Hauptgang bestellen wir einen wohltemperierten, respektablen offenen Rotwein aus Navarra, das 0,2-Liter-Karäffchen für 8 Mark.

Die Lammkeule Zauchwitz (benannt nach dem Geburtsort des zarten Tierchens) mit provencalischem Gemüse und Kartoffelgratin – für 25,80 Mark allemal genug zum sattwerden – ist so ländlich wie möglich und so weltläufig wie – hier – nötig. Uninspiriert dagegen die spinatgefüllten Allerweltschampignons. Immerhin stammt das Spiegelei dazu vom Huhn nebenan (19,60 Mark).

Das andere Huhn von nebenan lieferte die Eier für den Pfannkuchen (schmeckt wie bei Oma) mit Erdbeersorbet (9,50 Mark). Beim abschließenden Espresso schweift der Blick über den Tellerrand hinaus in die Weite der märkischen Wiesen und Wälder. Feuerrot versinkt soeben die fette Sonnenscheibe hinter dem Horizont.

Wein & Co, Unter den Linden 12. Dressler, Unter den Linden 39. Gasthof Zur Linde, Kunersdorfer Str. 1, 14552 Wildenbruch, (03 32 05) 6 23 79. Im Sommer ist täglich geöffnet von 12 bis 23 Uhr. Anfahrt aus Berlin: A 115 Richtung Berliner Ring bis Abfahrt Saarmund, von dort Richtung Michendorf bis Langerwisch, dort links nach Wildenbruch abbiegen.