„Wir raten Ihnen, sich binnen drei Tagen aufzuhängen“

■ Auf dem Dahlemer Waldfriedhof erinnert die Erich-Mühsam-Gesellschaft mit einer Lesung an den jüdischen Anarchisten, der vor 65 Jahren im KZ Oranienburg ermordet wurde

„Wir raten Ihnen, sich binnen drei Tagen aufzuhängen; wenn nicht, helfen wir Ihnen nach.“ Keine 24 Stunden nach dieser Drohung des SS-Rottenführers Erhard war Erich Mühsam tot. Mitgefangene fanden den Leichnam des Häftlings 2651 am Morgen des 10. Juli 1934, an einer Wäscheleine baumelnd, in der Latrine des Konzentrationslagers Oranienburg.

Zum 65sten Todestag veranstaltet die Erich-Mühsam-Gesellschaft Berlin noch bis heute abend eine Lesung aus dem Nachlaß am Grab des jüdischen Schriftstellers und Anarchisten auf dem Waldfriedhof Dahlem. Während der 24stündigen Marathon-Veranstaltung, die bereits zum zweiten Mal stattfindet, lesen unter anderem die Abgeordneten Judith Demba und Ida Schillen, der PDS-Politiker André Brie und der Kabarettist Dr. Seltsam. Zur Geisterstunde hatte sich der Eiermann Dieter Kunzelmann angekündigt.

Bereits gestern versammelte sich ein Dutzend Menschen unter den Dahlemer Kiefern, um an den 1878 in Berlin geborenen Revolutionär zu erinnern. Aber nicht allen reicht die literarische Veranstaltung als Gedenken aus: „Mühsam wollte ein kämpferisches Erbe, und jetzt wird hier nur gelesen“, beschwert sich ein junger Mann, auf dessen T-Shirt das Zeichen der anarchistischen Bewegung prangt. Zur Lesung bleibt er dennoch, „aber am Samstag wollen die Nazis in Hamburg aufmarschieren“.

„Sich fügen heißt lügen“, hat man ein bekanntes Zitat Mühsams neben den Grabstein gestellt. Die Regie für seine Totenfeier hat Mühsam selbst entworfen: „Die Becher sollt Ihr heben / Laßt meinen Leichnam leben! / Vorbei ist alle Not! / Hoch Mühsam! – Hoch der Tod!“ So wird vor den Friedhofstoren Wein angeboten, Werke des Literaten sind erhältlich.

Der Mord der SS war das Ende eines grauenvollen Leidensweges, der mit der Verhaftung am 28. Februar 1933, kurz vor einer geplanten Flucht nach Prag, seinen Anfang nahm. SS-Männer schlugen mit großen Holzscheiten auf den Häftling ein, zwangen ihn, das Scheuerwasser vom Boden zu lekken, brachen ihm beide Daumen oder ließen ihn sein eigenes Grab ausheben. Wenn sie Mühsam aufforderten, das Horst-Wessel-Lied zu singen, stimmte er die Internationale an. Seine Frau nach einem Besuch: „Er war schrecklich zugerichtet. Aus dem rechten Ohr, das stets blutete, hing eine große Eiterblase heraus.“

Schon im April 1919 war Mühsam in führender Funktion an der Ausrufung der Münchner Räterepublik beteiligt. Zuvor kämpfte er für das Ende des Ersten Weltkrieges. Ein Standgericht verurteilt ihn zu 15 Jahren Festungshaft, 1925 wird er begnadigt. Aber auch aus der neugegründeten KPD, der er wenige Monate angehört, tritt er schnell wieder aus. Von der kommunistischen Bewegung wird er, der sich stets für die Einheit der Linken einsetzt, diffamiert, weil er auch für Häftlinge in der Sowjetunion eintritt.

In der DDR, berichtet Chris Hirte, Herausgeber der 1994 erschienenen Tagebücher, seien Mühsams Aussagen zensiert worden. In der Bundesrepublik wurden seine Werke erst in den siebziger Jahren verlegt. Zu den bekanntesten Stücken zählt das Lied „Der Revoluzzer“, in dem er die Obrigheitshörigkeit der Sozialdemokratie auf die Schippe nimmt.

Die Berliner Erich-Mühsam-Gesellschaft, der rund 20 Mitglieder angehören, hat sich nun den Vertrieb der schwer erhältlichen Werke zum Ziel gesetzt. Mit der Lesung wolle man außerdem Stellung beziehen, sagt Mitglied Uwe Mannerow: „Mühsam hat sich gegen den Krieg eingesetzt. Das ist doch unheimlich aktuell.“ Andreas Spannbauer