Grundrauschen

Erst bei einem Live-Übertragungsmarathon wie zur Love Parade oder zur Tour de France findet das Fernsehen zu sich selbst. Denn ohne Bedeutung und Dramaturgie ist Fernsehen nur noch Fernsehen    ■ Von Christoph Schultheis

Am besten ist es, mitten in Berlin dabeizusein. Schon deshalb, weil man an diesem Tag in der Hauptstadt ohnehin keinen Schritt vor die Tür setzen möchte.

Schließlich ist's heute natürlich nicht wegen der Love Parade in Berlin am besten, sondern wegen der Love Parade im Fernsehen: siebenundzwanzigeinhalb Bruttostunden auf insgesamt fünf Kanälen zwischen halb zwei nachmittags und sechs Uhr in der Früh! Und am verläßlichsten und abgeklärtesten überträgt nun mal natürgemäß nicht Viva und nicht RTL 2, sondern das SFB-Regionalprogramm B 1. Auch wenn das Lokalfernsehen einige Jährchen gebraucht hat, um herauszufinden, daß heute kein Mensch mit altgedienten „Abendschau“-Moderatoren glücklich wird, die sich eine „flippige“ Mütze aufsetzen.

Solche Attitüden überläßt die charmant-distanzierte Spontan-Reporterin Patricia Pantel inzwischen junggebliebenen Innensenatoren wie im letzten Jahr Jörg Schönbohm. Und während Günter Jauch und Marcel Reif sogar für den renommierten Grimme-Preis nominiert waren, bloß weil sie in Madrid mal eine einzige ereignislose Stunde Fernsehen überbrükken mußten, wird das Kommentatorenduo Volker Wieprecht (SFB) und Peter Lützenkirchen (Ex-Pressesprecher der Love-Parade-Firma Planetcom) heute erneut ein Vielfaches an Zeit in einem kleinen, überhitzten Wohnwagen hinter sich bringen: „... das ist wohl der Wagen der Jungen Union ... auch sie schon im letzten Jahr dabei ... [die Kamera zeigt: blauer Himmel, grüne Wipfel, eine karotinfarbene, amorphe Masse, Lastwagen im Kunstnebel; dann – wir kennen die Bilder, es gibt keine anderen – eine junge Frau mit Cowboyhut und Latexbikini, als ob sie sich amüsiert] ... schön ... Herr Lützenkirchen, ...“– „Herr Wieprecht?“ und so weiter und so weiter und so fort

Aber es geht auch ohne B 1. Schließlich gibt's auch keine Anderthalbliterflaschen Red Bull, weswegen man mit Cola oder Sangria, allenfalls Sekt, vorliebnehmen sollte.

Das Wichtigste ist ohnehin: Fernseher an- und nicht mehr ausschalten! Schauen. Vorsichtig (!) oder zum Konkurrenzkanal zappen. Einen Brief, eine E-Mail schreiben, kurz vom Zeitunglesen aufschauen, tun und lassen, weitergucken! Wen es kurz mal aus dem Haus treibt (Zigarettenholen, Schwimmbad, Pizza) – nur zu! (Wer nicht alleine schaut, kann sogar fragen: „Hab' ich was verpaßt?“) Doch sollte hinter der Wohnungstür eben das unvergleichliche Wummern und Trillern aus dem Fernseher tönen.

Nun ist derartiges Dauerfernsehen an sich natürlich so ungewöhnlich nicht. Schon lange (und immer wieder) verläßt sich das Medium beim Sendezeitfüllen auf eingeschaltete Livekameras: Ob Oderhochwasser, Formel-1-WM-Qualifikationstraining oder britischer Prinzessinnentod, ob zwischen Avesnes-sur-Helpe und Thionville oder zwischen Bayer 04 Leverkusen und dem 1. FC Kaiserslautern – wenn's mal wieder länger dauert, ist meist viel zuwenig zu sehen, um ab- oder umschalten zu wollen. Zudem wird es still, elegisch (vor allem im Sommer).

Doch derlei kleine Fernsehewigkeiten (ein Fußballspiel dauert nicht mal länger als ein Fernsehspiel) finden sich weiterhin aufgehoben in einem Medium, das immer so tut, als ginge es um etwas. Wie der Krimi einen Mörder sucht, die „Tagesschau“ das Wetter von morgen und die Soap irgendeinen Anlaß weiterzumachen, drängt auch der Livebericht, selbst wenn er darüber die Zeit vergißt, einem Ziel entgegen – der Sintflutung eines Landstrichs, dem Unentschieden, der Ankunft eines Sarges auf einem Flughafen oder eines Radfahrers in der französischen Provinz. Selbst beim Karnevalsumzug warten alle auf den nächsten Wagen oder Vollrausch und deuten Pappmaché. An der Love Parade aber deutelt inzwischen niemand mehr herum. Sie ist. Zumal im Fernsehen ist sie nichts weiter als exemplarischste Füllmasse. Und nichts zeigt den Apparat derart als bloßes Gerät.

Daher braucht es auch keine 15.000 Watt. Auf Zimmerlautstärke gedimmt (oder besser noch: leicht darunter) pocht sich der Endlossound zu den immer, immer, immer gleichen Bildern über kurz oder lang auch so in die Wahrnehmung – und macht aus Interesse (bis ca. 18 Uhr), Gewöhnung (ab ca. 16 Uhr), Apathie (ab ca. 21 Uhr) und Abhängigkeit (ab 1.10 Uhr).

Doch schon viel früher – eigentlich mit der Entscheidung einzuschalten – ist das Sujet ohnehin willkürlich geworden. Die Love Parade hat keinerlei nennenswerte Dramaturgie.

Das erst macht den Bilder-und-Töne-Marathon so attraktiv. Was ist Fernsehen, diese Mattscheibe an diesem Ort dort, als dem Nichts beim Zeittotschlagen zuzuschauen? Und wann, wenn nicht an diesem Tag?

Denn während es (drinnen) bei der ARD-Wiederholung nach rund 1.000 Fernsehminuten noch einmal dämmrig wird rund um die hauptstädtische Prachtstraße, kommt (draußen) ein neuer Tag, einer von 365 pro Jahr, an denen es Fernsehen gibt – und nichts Uninteressanteres als diese Parade in Berlin. Das ist es wert.

Love Parade live: 14 – 21 Uhr (B 1); 17 – 23.30 Uhr (Viva); 13.30 – 18.15 Uhr (RTL 2); 23.50 – 1.25 Uhr (Arte, aus dem „Tresor“ und von der „Lovestern Galaktika“-Party)

Nicht live: 22.15 – 1.10 Uhr (B 1, sog. Highlights); 1.10 – 6 Uhr (ARD, der B 1-Remix); 1.10 – 1.40 Uhr (B 1, Zehn Jahre in 30 Minuten)

Überhaupt nicht live: So., 18.7., 17.20 – 20 Uhr (RTL 2, Best of ...)

Kulturschocks: 20.15 – 22 Uhr (ARD); 22.35 – 23.05 Uhr (3sat)

0.35 – 2.20 Uhr (Sat.1)

Halbheiten: 13.30 – 19.50 Uhr (ARD); 13.45 – 15.20 Uhr (RTL)