Alt, stinkend, lüstern

Die Konvulsion des Körpers, der sein Urteil spricht. Über Winfried Menninghaus' Studie zum Ekel  ■   Von Konrad Paul Liessmann

Ekel, daran kann kein Zweifel bestehen, ist einer der stärksten Affekte überhaupt. Es handelt sich dabei weder nur um ein moralisches Gefühl noch um eine rein ästhetische Abwehrreaktion, sondern um eine Konvulsion des Körpers selbst, der sein Urteil spricht: Wer sich vor etwas ekelt, dem dreht sich buchstäblich der Magen um. Gleichzeitig unterliegt kein starkes Gefühl einer solch ambivalenten Bewertung wie der Ekel. Einerseits gelten Ekelschranken als Relikte einer repressiven Gesellschaft, gelten Ekelreaktionen vor Alten, Kranken, Behinderten und Schmutzigen als politisch äußerst inkorrekt, andererseits gehört es zumindest in den jugendlichen Konsumkulturen zum guten Ton, sich zu ekeln, wenn jemand die falschen Turnschuhe trägt, und in der Kunst ist die Arbeit mit dem „Abjekten“, dem Widerwärtigen und Ekelhaften, ohnehin der letzte Schrei. Und im Gegensatz zu den Verwandten und Gegenspielern des Ekels auf dem Felde der Empfindungen, wie Angst oder Haß, Begierde und Lust, war der Ekel bislang kein Kandidat für eine kontinuierliche und systematische Reflexion. Es mag verwundern, aber es stimmt: Trotz – oder wegen – der Stärke und Präsenz der Ekelgefühle haben es weder Psychologie noch Philosophie geschafft, eine konsistente Theorie des Ekels zu entwerfen.

Was zum Phänomen des Ekels vorliegt, sind versprengte Ansätze. Der Berliner Literaturwissenschaftler Winfried Menninghaus hat sich der verdienstvollen Aufgabe unterzogen, diese Ansätze überhaupt erst einmal zu sichten, in einen historisch-systematischen Kontext zu stellen und aufeinander zu beziehen. Das Resultat ist eine umfang- und materialreiche Studie zur „Theorie und Geschichte einer starken Empfindung“, die eindrucksvoll demonstriert, welche unterschwellig dominierende Rolle die Thematisierung des Ekels zumindest im ästhetischen Diskurs der Moderne gespielt hatte. Sowohl die Bestimmungen als auch die Bewertungen des Ekels unterlagen dabei aber mannigfachen Variationen.

Den ästhetischen Denkern des 18. Jahrhunderts wie Lessing, Herder, Winckelmann, aber auch Schlegel und Kant ging es in erster Linie um die Frage nach der Konstruktion des schönen Körpers. Das Ekelhafte erschien aus dieser Perspektive als der in der Kunst zu vermeidende Widerpart der schönen Körperoberfläche: Falten, Haare, Runzeln, Verunstaltungen, Warzen, Fettwülste und, nicht zuletzt, der priapische Phallus. Diese Bestimmungen des Ekelhaften verdichten sich in einem seit der Antike geläufigen Topos, der vetula, der Vettel, dem alten, häßlichen, stinkenden, lüsternen Weib. Und dieses Schreckbild des Ekels wird sich, wenn auch immer wieder anders konnotiert, durchhalten, bis hin zu Franz Kafka, dessen Vorliebe für ekelhafte ältere Frauen Menninghaus ein ingeniöses Kapitel widmet. Und es ist auch nicht unwitzig, wenn Menninghaus darauf hinweist, daß noch die gefeierten Models unserer Tage sich bis ins Detail den Schönheitsvorschriften der klassizistischen Ästhetik unterwerfen und eine ganze Industrie davon lebt, daß das Ekelerregende, zumindest am weiblichen Körper, zum Verschwinden gebracht werden muß. Die ästhetische Reduktion des Ekelhaften auf das Störende in der Kunst der Körperdarstellungen brachte aber einige Probleme mit sich, vor allem die Frage, ob die Darstellung des Ekelhaften überhaupt ekelerregend sein könne, da der Ekel in erster Linie eine Reaktion der Natur auf die Natur sei, was sich nicht zuletzt in der Nähe des Ekels zum Geruchssinn zeigt, der ja bekanntlich durch die Künste nicht affiziert wird. Zudem rang die Poetik seit Aristoteles mit dem Problem, daß das Häßliche und Widerwärtige für die reinigende Wirkung einer Tragödie unerläßlich war, das Ekelhafte also eine wichtige Funktion für das Gelingen von Kunst hat, bis hin zu der seit der Romantik beliebten Schockästhetik, was auf der anderen Seite bedeutete, daß das nur Schöne, das allzu Glatte, das nur Sanfte, Weiche und Süße, das also, was später Kitsch genannt werden sollte, selbst wiederum ekelhaft werden konnte.

Der Hegel-Schüler Karl Rosenkranz unternahm dann auch in seiner Ästhetik des Häßlichen den Versuch, das Ekelhafte unabhängig von subjektiven Empfindungen zu bestimmen, und koppelte es an die Verwesung. Ekelhaft, so Rosenkranz, ist das „Entwerden des schon Todten“, die Fäulnis, die Maden, der Gestank eines verwesenden Leichnams. Ähnlich argumentierte der Husserl-Schüler Aurel Kolnai, der mit einer 1929 publizierten phänomenologischen Studie die philosophisch noch immer bedeutendste Arbeit über den Ekel vorgelegt hatte. Kolnai war es, der den Ekel als fundamentale Abwehrreaktion bestimmte, die aber, anders als der Haß oder die Angst, ein Objekt nicht fürchtet, auch nicht vernichten will, sondern, weil es lästig, unangenehm, zu nah und widerwärtig, aber nicht gefährlich ist, einfach wegräumen, wegwischen, beseitigen möchte. Ekel steht so immer in der Nähe zur Verachtung.

Der eigentliche Philosoph des Ekels aber war Friedrich Nietzsche gewesen. Nietzsche hatte als erster den Ekel als eine angezüchtete Reaktion begriffen, mit der der Mensch sich die Realität seines Körpers, das, was unter der Haut ist, das Blut, den Schleim, die Sekrete, die Verdauung und ihre Produkte, sich vom Leibe halten will und nicht zuletzt deshalb die Moral und die Kunst erfindet. Nietzsches Zarathustra mußte so auch erst einmal seinen Ekel überwinden, um das Leben emphatisch bejahen zu können. Andererseits aber war es auch Nietzsche gewesen, der im Ekel ein produktives Erkenntnisinstrument gesehen hatte, der in den instinktiven Ekelreaktionen auf Dummheit, Verlogenheit und Borniertheit ein besseres Kriterium für Wahrheit und Wahrhaftigkeit gesehen hatte als in ermüdenden Argumenten. Vor Antisemiten zum Beispiel hatte sich Nietzsche geekelt.

Die letzte entscheidende Deutung des Ekels stammt von Sigmund Freud. Erst bei ihm wird der Ekel vollends positiv umgedeutet, erscheint als Spur des Unbewußten, als Relikt jener Zeit, als das Begehren noch universell und das Kind polymorph pervers gewesen war, als das Blut, der Schleim und die Exkremente noch nicht Gegenstand des Abscheus, sondern Momente einer umfassenden Sexualität gewesen waren. Die Nötigung des Menschen zur Kultur hat ihm den Ekel eingeflößt – gleichzeitig ist der Ekel aber Zeichen des Verdrängten, Ausdruck der unbewußten Wünsche. Das Ekelerregende und das Begehrte liegen seit Freud eng nebeneinander, und davon zehrt die Behandlung des Ekels im 20. Jahrhundert, ob bei Sartre, bei Bataille oder bei Julia Kristeva, deren vieldiskutierte Theorie des Abjekten Winfried Menninghaus am Ende seiner Studie einer sanften Kritik unterzieht.

Menninghaus spannt also einen weiten Bogen der ästhetischen und literarischen Thematisierungen des Ekels. Er verfährt seinem Gegenstand gegenüber allerdings im wesentlichen referierend und läßt sich nur selten zu zeitdiagnostischen Bemerkungen über die Bedeutung des Ekels hinreißen. Man wird, ist heute in der Kunst oder im sozialen Leben vom Ekel die Rede, aber ohne das Buch von Menninghaus nicht mehr auskommen.

Winfried Menninghaus: „Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung“. Suhrkamp, Frankfurt/Main 1999; 591 Seiten, 58 DM

Die unterschwellig dominierende Rolle der Ekelthematik im ästhetischen Diskurs der ModerneFranz Kafkas Vorliebe für ekelhafte ältere Frauen und die gefeierten Models unserer Tage