Ein Genie macht keine Gefangenen

Wird US-Liebling Mia Hamm die Fußballerin dieser WM – oder die chinesische Kapitänin Sun Wen? Das heutige WM-Finale wird es entscheiden.   ■  Aus Los Angeles Rainer Hennies

Wenn man eine bestimmte und ausgewiesene Expertin fragt, was sie von Chinas Kapitänin hält, redet sie nicht lange drumrum. „Sun Wen ist eine geniale Fußballerin“, sagt Mia Hamm. „Sie ist immer im richtigen Moment an der richtigen Stelle und macht keine Fehler.“ Die Angreiferin Sun Wen ist so gut, daß sie die Fußballerin sein könnte, deren Name zuerst fällt, wenn die Leute sich einmal an diese WM erinnern werden.

Das wäre eine bemerkenswerte Leistung, da diese Position eigentlich schon vor Turnierbeginn vergeben war – an Mia Hamm. Die bestens vermarktete US-Spielerin ist zumindest in den USA längst zur Galionsfigur für den Frauenfußball aufgestiegen. Ihre Leistung im Turnierverlauf war in Ordnung. Aber nicht spektakulär. Hamm, eine Art Linksaußen, hat erst zwei Tore geschossen, beide in der Vorrunde gegen mäßig starke Gegnerinnen. Das ist nicht viel für eine, die mit 111 Länderspieltreffern die erfolgreichste Torjägerin aller Zeiten ist. Nun muß das heutige Endspiel USA – China (Eurosport, 22 Uhr, live; ZDF, 2. Halbzeit live) entscheiden bzw. dessen Ausgang.

Was die Torquote betrifft, kann Sun Wen nicht mithalten. Sie traf in 109 Länderspielen 45mal. Mit sieben Toren ist sie aber die beste Torschützin bei dieser WM, gleichauf mit der brasilianischen Mittelfeldspielerin Sissi.

Wie Hamm (27) gilt auch Sun Wen (26) als eher zurückhaltende Persönlichkeit. Sie spricht als eine von drei Spielerinnen des Teams ein wenig Englisch, tut das aber nicht gern. Soviel ist von ihr zu erfahren: Sie möchte 2001 in den USA Fußball spielen, wenn die Profiliga eingeführt ist, mit der die US-Amerikanerinnen ihr WM-Fieber in den Alltag hinüberretten wollen. Und sie möchte ihr Studium fortsetzen.

Derzeit studiert Sun Wen an der Universität von Schanghai Literaturwissenschaften. Sie schreibt Gedichte, die auch schon in einer Zeitung gedruckt wurden. „Candle in the wind“ von Elton John gehört zu ihren Lieblingssongs. Das ist ihre romantische Seite. In ihrem Spiel, im gegnerischen Strafraum ist Sun Wen aber die Kaltblütigkeit in Person. Sie mache keine Gefangenen, schreiben US-Medien.

Was macht ihr Spiel aus? US-Trainer Tony DiCicco lobt Sun Wen als große Allrounderin im Angriff. „Sie liest das Spiel wie kaum eine andere. Sie findet immer die passende Lücke zur Mitspielerin und zum Torschuß. Sie ist einfach Weltklasse.“

Sun Wens Popularität in China ist mit der Mia Hamms in den USA nicht zu vergleichen. „Die Medien berichten intensiv von der WM“, sagt Lu Ting aus der chinesischen Delegation. „Allmählich erfahren die Menschen, wer wir sind. Sun Wen wird sicherlich davon profitieren. In Studentenkreisen ist sie längst bekannt.“

Frauenfußball ist in China zwar genauso wie in den USA international sehr viel erfolgreicher als Männerfußball. Doch Fußball gilt in erster Linie noch als etwas für Jungen. Sun Wen sagt, ihreFamilie sei eine Ausnahme. „Viele Väter akzeptieren noch nicht, daß ihre Töchter Fußball spielen. Aber meiner war sehr stolz“, sagt sie. Mit dem WM-Verlauf ist sie auch deshalb sehr zufrieden, weil es „sehr wichtig ist für die Weiterentwicklung unseres Sports“ – und natürlich „für China“.

Chinas Trainer teilten sich in den letzten Tagen die Arbeit. Im Fifa-Hauptquartier, dem mondänen Century Plaza Hotel von Century City, bezifferte Co-Trainer Yan Zhongjian die Chancen des Teams als „fifty-fifty“. Währenddessen feilte Chef Ma Yuanan an den letzten Feinheiten. Im US-Lager haben sie höchsten Respekt vor dem chinesischen Kurzpaßspiel, vor der Konterstärke und vor allem vor der Schnelligkeit und Wendigkeit, mit der die Chinesinnen agieren. Die Art, in der das Team Titelverteidigerin Norwegen im Halbfinale mit 5:0 aus dem Turnier gekegelt hat, hat großen Eindruck hinterlassen. Nicht zu vergessen Chinas flexible Abwehr. Es ist kein Witz: Sie steht wirklich wie eine Mauer. Es ist klar: Die „Big Red Machine“ will sich auch von 85.000 US-Fans in der Rose Bowl von Pasadena nicht erschrecken lassen. „Die USA sind zwar wie Deutschland und Norwegen körperlich und auf dem Energie-Level überlegen“, sagt Yan. „Aber Fußball ist nun einmal mehr, als den Platz hoch und runter zu laufen.“ Natürlich setzt der immer freundliche Yan stets ein breites Grinsen auf. Aber diesmal konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, er sei wirklich richtig zuversichtlich. Und Sun Wen hat bei aller Zurückhaltung eine Frage klar beantwortet: „Ja“, sagte sie, „natürlich wollen wir Gold gewinnen.“