Das Ausmaß der Katastrophe ist noch nicht abzusehen

■ Experten haben jetzt erste Berichte über Umweltschäden in Jugoslawien infolge der Nato-Angriffe vorgelegt. Vorläufiges Fazit: Die Zeitbombe für Mensch und Umwelt tickt

Berlin (taz) – Man sieht wenig, und das ist das wohl größte Problem. Doch selbst Laien ist klar, daß die wochenlangen Nato-Bombardements von Chemiefabriken, Raffinerien und Öldepots in Jugoslawien nicht ohne Folgen für die Umwelt bleiben können. Tonnen hochgiftiger Chemikalien sind unmittelbar nach den Angriffen verbrannt oder in Flüsse und Böden gelangt. Aber tote Fische warten nicht, bis Experten sich ein Bild machen. Welche Schäden langfristig für Wasser, Boden, Tier- und Pflanzenwelt und nicht zuletzt den Menschen durch diese Zerstörungen wirklich entstanden sind, versuchen internationale Umweltinstitutionen wie das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (Unep), die EU-Kommission und regierungsunabhängige Organisationen wie der WWF und Greenpeace zur Zeit herauszufinden.

Schon im Mai versammelte Unep-Chef Klaus Töpfer Experten und gründete gemeinsam mit UN-Habitat eine „Balkan Task Force“ (BTF). Die von dem ehemaligen finnischem Umweltminister Pekka Haavisto geleitete Expertenkommission legte Ende des vergangenen Monats einen ersten Bericht vor, ebenso die EU-Kommission. Beide Berichte enthalten zwar nur erste Eindrücke, aber selbst bei der darin geübten Zurückhaltung ergibt sich ein katastrophales Szenarium. Besonders die Umgebung von Pancevo, Prahovo und Novi Sad, wo mehrere Industriekomplexe getroffen wurden, ist hochgradig verseucht. Durch die Zerstörung der petrochemischen Fabrik in Pancevo wurden Tausende Liter chlorhaltiger Verbindungen in die Donau geschwemmt. Dazu kommem rund 100 Tonnen Ammoniak und Öl aus der Zerstörung der auf demselben Betriebsgelände befindlichen Raffinerie. Im rumänischen Abschnitt der Donau maßen die Experten Kupfer-, Cadmium-, Chrom- und Bleiwerte, die doppelt so hoch sind wie die maximal erlaubten Grenzwerte. Welche Verbindungen aus dem Gemisch entstehen, welche Auswirkungen dies auf das Grundwasser haben wird und damit auf die Trinkwasserversorgung der Bevölkerung, ist noch unklar.Sorgen bereitet den Experten auch die mögliche radioaktive Verseuchung durch das bei den Waffen eingesetzte abgereicherte Uran. Erschwert wird die Arbeit der Fachleute durch den Zusammenbruch der Infrastruktur in Jugoslawien. Konkrete Messungen sind nur in begrenztem Umfang möglich. Erschwert werden akut notwendige Untersuchungen aber auch durch das Verhalten der jugoslawischen Regierung: Dem WWF wurden Visa für die Einreise verweigert. Als Begründung sei angegeben worden, daß die Organisation doch sowieso in Kürze mit der Balkan Task Force einreisen würde, sagte Philipp Weller der taz.Die BTF will noch diesen Monat gründliche Untersuchungen vor allem rund um die„ Hot Spots“ Pancevo, Novi Sad und Prahovo vornehmen. Ein Bericht mit Handlungsempfehlungen soll im September fertiggestellt sein. „Viel zu spät“, so Philipp Weller. Damit ist klar: Die Zeitbombe für Mensch und Umwelt tickt.

Maike Rademaker