„Man erhofft sich soviel und am Ende ist nur Hektik“

■ Zwischen den Erwartungen an die Love Parade und dem Erlebten liegen oftmals Welten

Sie waren zu viert aus Sachsen angereist. Doch gestern vormittag waren es nur noch zwei. „Die Love Parade war scheiße“, sagte einer der beiden 20jährigen, als sie in einer Sparkasse in der Friedrichstraße Geld abhoben. „Wir sind mit den falschen Leuten dagewesen.“ Der andere murmelte leise: „Die waren scheiße drauf.“ Wegen dem Streit und aus Geldmangel konnten sie auf keine der Parties gehen und haben deshalb die ganze Nacht „auf irgendeiner Wiese rumgelegen“. Ihr einziger Wunsch: „Wir wollen nur noch nach Hause.“

Besonders lustig war es auch für Matze nicht, einen der wenigen auf der Freifläche hinter dem Tacheles. Seit Freitag früh hat der 28jährige Rostocker dort durchgehalten. „Ich wußte, daß hier nur Verrückte sind“, so der Tätowierer, dem der Beruf an beiden Armen anzusehen ist. Doch „immer die gleiche Musik und so viele Besoffene“ seien nicht sein Ding. Nochmal will er sich das nicht antun. „Man erhofft sich soviel“, sagte er traurig, „und am Ende ist es nur Streß und Hektik“.

Im Fritz-Zelt neben dem Tacheles gab es zumindest einige fröhlichere Gesichter. Etwa 80 Leute saßen in der knalligen Sonne. Zum Tanzen hatte aber keiner mehr Lust. Der 19jährige Christian aus Pankow und der 18jährige Lee aus Hohenschönhausen versteckten ihre müden Augen hinter verspiegelten Sonnenbrillen und hielten sich mit Joints, Bier und Kaffee munter. Obwohl die Love Parade von Jahr zu Jahr „beschissener“ werde – „zu voll“ und „extrem veränderte Musik“ – sei es in der Oranienburger Straße „echt geil“ gewesen. Für die Love Parade hatte sich Lee etwas Besonderes ausgedacht: Zusammen mit seiner Mutter hatte er aus einem Bettbezug ein Engelsgewand geschneidert. Denn: „Jeder Arsch auf der Love Parade sieht gleich aus.“ Doch nachdem er sich in der Nacht umgezogen hatte, sah auch er aus wie alle anderen.

Ein Klamottenproblem der besonderen Art hatte der 22jährige Bernhard aus Karlshorst, der durch die Oranienburger Straße torkelte. Ihm wurde das T-Shirt geklaut. „Ich hab mir dermaßen die Hucke zugehauen“, erzählte er, „bis ich nicht mehr gehen konnte.“ Dann habe ihm jemand sein „cooles“ T-Shirt einer brasilianischen Hardcore-Metalband „abgerippt“. Sollte ihm der Dieb über den Weg laufen, „haue ich ihm sofort auf die Fresse“, kündigte er an. Doch wenigstens eine positive Erinnerung hat er: „Als ich neben dem Fantawagen auf der Love Parade lief, hat mich der Sound acht Meter nach oben gehoben. Das war schön.“

Das wohl traurigste Gesicht an diesem Sonntag vormittag machte Rico, der wenige Meter neben dem Tacheles auf einem vollgemüllten Treppensabsatz saß. „Ich weiß nicht, ob meine Freundin noch lebt“, erzählte der 17jährige, der vor vier Wochen von Chemnitz in ein besetztes Haus nach Friedrichshain gezogen ist. Weil die sich mit ihrem Freund gestritten hatte – „Er sollte sich nicht mit einem anderen Mädchen unterhalten“ – und er kurz nach ihrem Verschwinden einen Krankenwagen mit Sirene vorbeifahren sah, rechnete er mit dem Schlimmsten. B. Bollwahn de Paez Casanova