Streß-Code statt Dreß-Code

■  1,5 Millionen Raver und ein Toter: Die 11. Love Parade war mal wieder ein Superlativ. Der Rest ist bekannt: Zuviel Müll und Urin und der Streit um die nächste Parade. An der möchte der Wirtschaftssenator gern verdienen

„Ist das, was Sie hier sehen, für Sie entsetzlich?“ fragte am Morgen danach ein Fernsehreporter. Zum Superlativ der 1,5 Millionen Love-Parade-Teilnehmer muß die Dramatik der Vokabeln eben passen. Adressat der Frage: der obligatorische amtliche Love-Parade-Gegner, Tiergartens Baustadtrat Horst Porath (SPD), im Angesicht des geschändeten Parks. Porath gab sich zwischen zertretenen Rabatten und amputierten Ästen nicht nur erwartungsgemäß „fassungslos“, sondern forderte auch eine Verlegung der Love Parade: „Es kann doch nicht sein, daß es in einer Millionenstadt wie Berlin keine andere mögliche Strecke gibt“, schnaubte der Stadtrat auf einem ersten Besichtigungstermin am Sonntag morgen.

Schneepflüge und Kehrmaschinen der Stadtreinigungsbetriebe (BSR) hatten zu diesem Zeitpunkt bereits die Straße des 17. Juni größtenteils geräumt, Kehrtrupps der „Schmutzengel“ (BSR-Werbeslogan) durchkämmten noch den Park, während Wasserwerfer der Polizei die Grünflächen bewässerten, um den eingesickerten Urin zu verdünnen. 200 Tonnen Müll ist die veranschlagte Bilanz dieser mit Abstand größten Love Parade.

Ende Juli sollen nun in Gesprächen „die Kompentenzen, aber auch die Pflichten der Beteiligten festgelegt“ werden, um den jährlichen Müll zukünftig in den Griff zu kriegen, nachdem sich Initiator Dr. Motte in seiner Abschlußrede doch noch zum Standort Berlin bekannt hatte. Wirtschaftssenator Wolfgang Branoner (SPD) forderte gestern, daß Berlin „mehr als bisher an den Umsätzen beteiligt wird“. Bis zu 300 Millionen Mark habe die Stadt diesmal durch die konsumfreudigen Raver eingenommen. Und schließlich habe die massive Unterstützung durch den Senat die Love Parade „erst zu dem gemacht, was sie ist. Diesen Erfolg wollen wir uns von einem Bezirk nicht zerreden lassen“, sagte Branoner in Hinblick auf Poraths Kritik.

Noch keine Hinweise hat die ermittelnde 6. Mordkommission im Fall eines getöteten Ravers aus Oranienburg. Von dem Täter, der den 27jährigen sowie einen gleichaltrigen Zeuthener nach einem Streit mit einem Messer gegen 18.45 Uhr niederstach, fehlt trotz „brauchbarer Zeugenaussagen“ und inzwischen veröffentlichter Phantombilder jede Spur. Zu kleineren Zwischenfällen kam es auf S-Bahn-Linien in Hermsdorf und Nikolassee: Hier zerstörten anreisende Raver zwei komplette Züge. Zufrieden zeigten sich S-Bahn wie auch die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) dennoch. Die BVG konnte ihr Armreif-Ticket zur Parade 200.000mal, doppelt so oft wie im Vorjahr, absetzen. Und auch für Polizeipräsident Hagen Saberschinsky, der zwecks Lagebeurteilung am Sonnabend die Goldelse bestieg, ist die Love Parade eine „politische Demonstration“ und zudem „polizeitaktisch übersichtlich“.

So verstanden sich Staatsmacht und Liebesnation weitgehend gut. Die Ordnungshüter trugen Wasserpistolen, die Raver grünweiße Polizei-T-Shirts. Die waren neben „Ballermann“-Helmen mit Bierhaltevorrichtung und Winkelrökken auch für den Herrn nur einer der modischen Mosaiksteinchen. Und Blickfang waren statt bunter Textilien zumeist eh die athletisch durchdefinierten Raverextremitäten. Von übergreifenden „Trends“ auf Deutschlands größter Körperkulturmesse zu sprechen, haben sich die Kommentatoren trotz massenhafter Sonnenblumen- und Lack- und Lederaccessoires deshalb längst abgewöhnt. Und so gingen Grufti und Skinhead, Popper und Öko zuckend, drängelnd und schwitzend in der Masse auf: Streß-Code statt Dreß-Code.

„Ecstasy, Ecstasy!“ zischten die Dealer der durchs Brandenburger Tor drängenden Liebesnation zu. Irgendwo am Rande beugten sich am Samstag zwei Helfer über einen zitternd kauernden Raver. „Vitamin E“, nickten sie sich zu. Über 4.500 Einsätze besorgten die Rettungsdienste, 337 Teilnehmer wurden ins Krankenhaus gebracht, zumeist wegen hitzebedingter Kreislaufschwäche und Wassermangels. Christoph Rasch