Vom anderen Leben am legendären Rio Grande

„Colonias“ sind wilde Siedlungen an einem uralten Grenzfluß. Der Pioniergeist der Einwohner ist sprichwörtlich  ■ Von Peter Tautfest

Mein Mann brannte in einem Anfall von Jähzorn unser Häuschen auf der anderen Seite des Flusses nieder,“ erzählt Josefina. Das gab den Ausschlag. Um ihrem gewalttätigen Mann zu entkommen, für sich ein Auskommen zu finden und für ihre Kinder eine Zukunft, machte Josefina, was Tausende ihrer Landsleute vor und nach ihr gemacht hatten: Sie setzte mit ihren drei Kindern eines nachts über den Rio Grande und kam nach Laredo, der Grenzstadt im Süden von Texas.

Sie fand zunächst bei einem Cousin Unterschlupf, dessen Haus in der Stadt aber derart löchrig war, daß die Familie bei Regen auf den überdachten Balkon zog, um trocken zu bleiben. „Kein Wunder, daß meine Kinder ständig krank waren“, seufzt Josefina. Dann hörte sie von der Colonia, die draußen vor der Stadt entstand. Dort konnte man für 50 Dollar ein Fleckchen Erde kaufen und den Kaufpreis von ca. 7 000 Dollar mit 80 Dollar Monatsbeitrag abzahlen. Irgendwie borgte sie sich das Geld zusammen. Das war ihre erste Rate auf den amerikanischen Traum vom eigenen Haus auf freiem Grund.

Abseits der Stadt hatte in der Strauchsteppe am Rio Grande ein gewisser Cecil McDonald ein Geschäft begonnen, das vor und nach ihm schon Hunderte von Maklern, Spekulanten, Bankiers und Landbesitzern gemacht hatten. Er hatte von einem Rancher ein Stück Land erworben und verkaufte es parzellenweise an Leute, die nie einen Kredit zum Immobilienkauf bekommen könnten. Das Land war weder vermessen noch erschlossen, es gab weder Straßen noch Strom, weder Wasser noch Abwasser. Dafür kostete es nicht viel. Und da draußen gab es keine Vorschriften, keine Baugesetze, keine Polizei, hier konnte sich jeder nach seiner Façon eine Bleibe bauen – aus Paletten oder Autoteilen, aus Plastikplanen oder Ziegelsteinen. Colonia, ursprünglich das spanische Wort für Siedlung und Nachbarschaft, nahm an der Grenze zu Mexiko eine besondere Bedeutung an. „Colonias sind Slumvororte, die nicht eingemeindet sind“, erklärt Pedro Castaneda, der zusammen mit seiner Frau Guadalupe (von ihren Patienten Lupita genannt) einen medizinischen Dienst für Kinder in den Colonias organisiert. „Dafür erhalten sie weder von der Stadt noch vom County auch nur die elementarsten Dienstleistungen wie Kanalisation, Transport, Müllabfuhr.“

In Rio Bravo, der Colonia, in die Josefina zog, bewohnte sie zunächst ein Autowrack, daß jemand ihr verkauft hatte. „Nachts konnten wir die Fenster nicht aufmachen, die Moskitos waren groß wie Hubschrauber. Bei geschlossenen Fenstern aber war es in den heißen Nächten des Südens schier unerträglich. Für Wasser und Brennholz ging ich mit meinen drei Kindern zum Fluß hinunter. Den kleinsten setzte ich diesseits des Zauns ab, den Cecil McDonald um die Colonia gezogen hatte, das nächste Kind plazierte ich etwa fünfzig Meter vom Fluß und mit meinem großen Jungen sammelte ich an der Uferböschung Holz und schöpfte Wasser. Beides wurde in einer Kette von Kind zu Kind weitergereicht.“ Das Schild aus Pappe, das Cecil McDonald am Fluß angebracht hatte, hätte Josefina, selbst wenn sie des Englischen mächtig gewesen wäre, nicht lesen können. Im Laufe der Zeit hatten Regengüssen es verwaschen und die Worte „Kein Trinkwasser“ waren unter der sengenden Sonne zur Unleserlichkeit vergilbt.

350.000 Menschen leben allein zwischen El Paso und Brownsville in wilden Siedlungen. Sie leben an einem Fluß, der zu den 10 gefährdetsten Wasserläufen in Amerika zählt. Verschmutzt wird er durch fehlende Kanalisation diesseits und jenseits der Grenze und immer stärker durch Fertigungsanlagen, die als Maquiladores entlang der Grenze in Mexiko entstanden sind, wo billige mexikanische Arbeitskraft die Herstellungskosten senkt. In Nuevo Laredo stehen 300 dieser Maquiladores, in denen Teile hergestellt und andernorts zur Montage verfrachtet werden, oder wo aus den USA, Kanada und Japan angelieferte Halbfabrikate zusammengebaut werden. Nach Laredo kommen täglich 20.000 Laster – mitsamt ihren Abgasen und ihrem Lärm – und um Laredo ist eine boomende Zuliefer- bzw. Lkw-Reparaturindustrie entstanden. In den Colonias herrscht gleichwohl Arbeitslosigkeit – zwischen 18 und 30 Prozent, fast sechsmal so hoch wie der nationale Durchschnitt. An der Grenze zu Mexiko leben bis zu 40 Prozent der Menschen in Armut – die meisten von ihnen in Colonias.

Das Kinderarzt-Ehepaar Pedro und Guadalupe Castaneda ist durch seine Tätigkeit als Schulärzte auf die Zustände in den Colonias aufmerksam geworden. „Ein Kind brach zusammen, weil die Mutter es tagelang nur mit Reiswasser gefüttert hatte“, berichtet Lupita. „Und dann waren da diese beiden süßen Kinder, die alltäglich in die Schule kamen und nicht einen Tag Unterricht versäumten. Nur waren sie immer derart verdreckt und stanken dermaßen, daß andere Kinder sie mieden. Die Lehrerin sprach uns an, und wir sind zu den Eltern in ihre Colonia gefahren. Die Mutter fuhr jeden dritten Tag in die Stadt – für mehr Fahrten reichte das Geld nicht –, um Lebensmittel und Wasser zu kaufen. Sie schleppte, was sie tragen konnte – vier Flaschen Wasser. Da war jeder Tropfen eingeplant, zum Waschen reichte es nicht.“

Als Lupita und Pedro anfingen, sich mit dem Gesundheitszustand der Kinder in den Colonias zu beschäftigen, gab es keine Literatur, keine Untersuchung, keine Statistik. „Manche Fachleute hörten den Begriff zum ersten Mal und dachten, Colonias wären Ferienwohnungen.“ Also machten die Castanedas eigene Erhebungen. Das Ergebnis verschlug ihnen die Sprache.

Sie hatten mit Zuständen wie in der Dritten Welt gerechnet, mit Durchfallerkrankungen und hohen Analphabetenraten. Sie fanden statt dessen einen hohen Bildungs- und Einschulungsgrad und eine Häufung von Erkrankungen der Atemwege, die anders als Magen- und Darmerkrankungen auf Luftverschmutzung zurückgehen. Das erstaunlichste aber war, daß die Mehrzahl der Einwohner in der von ihnen untersuchten Colonia Amerikaner und nicht Mexikaner waren. Dieser Prozentsatz kommt zwar durch die hohe Zahl der Kinder zustande, die in den USA geboren sind und damit die amerikanische Staatsbürgerschaft haben, gleichwohl läßt sich die Armut in den Colonias nicht als ein mexikanisches Problem abtun. „Das sind unsere Kinder, die wir da im Elend leben lassen“, sagt Lupita. Nach ein paar Monaten konnte Josefina aus dem alten Auto in ein Bretterhaus umziehen, das sie mit Hilfe ihres Cousins gebaut hatte. Fenster hatte es keine, denn für Fensterglas hatte sie kein Geld. Die Kinder schliefen in Pappkartons. „Eigentlich hatten wir es in Mexiko besser“, sinniert Josefina. „In Mexiko gibt es eine Tradition des Gemeinsinns und der Nachbarschaftsorganisation“, bestätigt Pedro Castaneda. „In Mexiko waren auch die Schulen besser.“ Josefinas Ältester war seinen Klassenkameraden weit voraus. Und im Krankheitsfall gehen viele Colonistas noch heute nach Mexiko, wo Ärzte und Arzneimittel billiger sind als in Amerika. Rio Bravo ist heute, zehn Jahre nach dem Entstehen, eine kleine Stadt geworden. Ein Teil der Straßen ist gepflastert, und mehrmals am Tag fährt jetzt ein Bus laut hupend durch die Gassen. Morgens weckt er alle, die zur Arbeit in die Stadt fahren wollen. „Der Busfahrer bekommt von uns Kaffee“, erzählt Josefina lachend, „während sich die Leute zur Arbeit anziehen.“

Gesetze und staatliche Programme haben begonnen, die Lage der Colonistas zu verbessern. Heute darf kein Land mehr zu Siedlungszwecken verkauft werden, das nicht vermessen und erschlossen ist. „Ich habe eine Verordnung durchgesetzt, die es den Stromgesellschaften verbietet, Strom in die Colonias zu bringen, bevor Straßen und Wasserleitungen gebaut wurden“, erzählt County Commissioner Carlos Cascos. „Die Colonistas haben mich dafür nicht geliebt, aber die Stromgesellschaften wollten das Geschäft machen und haben deshalb Druck auf Stadt und County ausgeübt, Infrastruktur in die Colonias zu bringen.“ „Die Gelder für Entwicklung der Colonias sind keine Frucht des schlechten Gewissens“, sagt Maria Sanchez, die in einer Colonia aufgewachsen ist und jetzt für Valley Interfaith arbeitet, einer ökumenischen Organisation, deren Mission sehr diesseitig in der Bekämpfung von Armut und der Organisation von Colonistas besteht. „Normalerweise wenden sich Leute, die etwas von der Regierung wollen, an Lobbyisten, dafür haben wir kein Geld“, erklärt sie. „Wir haben die Abgeordneten in die Colonias eingeladen oder sind mit den Colonistas zu ihnen gegangen, wenn sie nicht kamen. George W. Bush war noch nie hier“, erinnert sie sich. „Ich erinnere mich noch an eine Sitzung des Wasserbauamts, bei der es um die Bewilligung von Mitteln für Wasser und Kanalisation ging“, erzählt Maria Sanchez. „Da saßen Anwälte, Abgeordnete und Lobbyisten zusammen und dachten, sie wären in einer Viertelstunde fertig. Als wir mit einer Busladung Colonistas in die Sitzung kamen, wurde ihnen nach einem halben Tag klar, daß die Vorlage neugeschrieben werden müßte.“

Das vom Abgeordneten des Web County, Henry Cuellar, im Texanischen Parlament eingebrachte Gesetz zur Entwicklung der Colonias, wurde schließlich verabschiedet. Josefina gehört mit anderen Frauen aus der Colonia Rio Bravo zu den sogenannten Promotores, die eine Art Sozialarbeit in den Colonias leisten. Sie gehen von Tür zu Tür, drängen die Familien dazu, mit ihren Kindern in das Gemeindezentrum zu kommen, das mit Geldern der University of Texas entstanden ist. Sie berichten mit einer Mischung aus Nostalgie und Bitterkeit darüber, wie sie in die Colonias gekommen oder in ihnen aufgewachsen sind. Narcedalia erinnert sich an die vielen Klapperschlangen in Rio Bravo, ihr Vater brachte ihr bei, sie zu fangen. Rosi lernte Fallen zu stellen und Hasen zu fangen, um Fleisch auf den Tisch zu bringen. Maria hatte mangels Glas Zeitungspapier in den Fenstern ihrer Hütte und erinnert sich, daß die Frau von Cecil McDonald oft für jene ein gutes Wort einlegte, die mit ihren monatlichen Zahlungen nicht nachkamen. Rita, die jüngste und einzige im Kreis, die Englisch spricht, hat erst vor ein paar Tagen damit aufgehört, täglich eine Holzplatte vor ihren Eingang zu nageln, wenn sie zur Arbeit geht, damit ihr nichts gestohlen wird – und das, obwohl sie jetzt sogar einen Kassettenrekorder hat. „Ja, es fängt an, besser zu werden in den Colonias“, resümiert Josefina, „aber irgendwie ist der Pioniergeist dahin.“

„Kein Kind in Texas wird in seiner Entwicklung zurückbleiben“, so Gouverneur W. Bush über seine Schul- und Jugendpolitik im US-Bundesstaat Texas