Kommentar
: Voneinander lernen

■ Sitzenbleiben und die Leistung

Die Zahlen sind dazu angetan, die üblichen Stereotype zu pflegen. Im Westen müssen viel mehr Schüler die Klasse wiederholen als im Osten? Logisch, sagt der Ostler, schließlich hat in der DDR noch Leistung gezählt. Na klar, sagt der Westler, im Osten werden die guten Noten mit der Suppenkelle ausgeteilt.

Doch so einfach ist es nicht. Unter Fachleuten gilt es inzwischen als ausgemacht, daß die Schüler in den östlichen Bundesländer fachlich mehr lernen als ihre Altersgenossen in der alten Bundesrepublik. Verläßliche Zahlen gibt es dazu leider nicht. Das verhindern die Kultusminister, die jeden Vergleich noch immer scheuen. Doch es gibt genügend Anhaltspunkte, daß die Schüler zwischen Ostsee und Erzgebirge zumindest in Mathematik und Naturwissenschaften tatsächlich über bessere Kenntnisse verfügen.

Jetzt kommt natürlich ein Aufschrei der Reformpädagogen aus dem Westen. Sie vermissen an den Ostschulen die Vermittlung von sozialer Kompetenz, den Beitrag der Lehrer zur Persönlichkeitsentwicklung. Daran ist gewiß viel Wahres. Wenn ein Lehrer, wie an einer Ostberliner Schule geschehen, gegen rechtsradikale Pöbeleien nicht einschreitet, weil er „nur für Physik zuständig“ sei – dann ist das ein pädagogisches Armutszeugnis. Daß viele Lehrer derlei weltanschauliche Indifferenz damit begründen, daß sie von Ideologien genug hätten, macht die Sache nur schlimmer.

Trotzdem sollten sich die arroganten Oberlehrer aus dem Westen auch einmal fragen, ob jene ausgeprägte Leistungsfeindschaft, die an nicht wenigen Schulen im Westen grassiert, wirklich ein Beitrag zur Persönlichkeitsbildung ist. Wer sich dort für den Unterrichtsstoff ernsthaft interessiert, gilt schnell als Streber; soziales Prestige wird auf anderen Feldern erworben.

Klüger als das ewige Nachplappern von Klischees wäre es, wenn Ost und West voneinander lernen würden. Gerade in den Schulen könnte wahrlich Neues und Besseres entstehen, wenn sich die Lehrer (Ost) mit ihrem Erziehungsauftrag anfreunden und die Lehrer (West) ihren Schülern das Gefühl vermitteln, daß Leistung kein Makel ist. Ralph Bollmann

Bericht Seite 20