Entscheidung über Leben und Tod

■ Noch immer wird darüber gestritten, wer entscheiden soll, ob bei todkranken Koma-Patienten die lebenserhaltenden Maschinen abgeschaltet werden dürfen

Widersprüchliche Gerichtsentscheidungen zur „Sterbehilfe“ sowie die 1999 in Kraft getretene Reform des Betreuungsrechts haben nach Darstellung der Deutschen Hospiz-Stiftung Tausende BürgerInnen verunsichert . „Diese Ängste der Menschen“, sagt Vorstandsmitglied Eugen Brysch, „veranlassen uns zum Handeln.“ In einem Brief an den Rechtsausschuß verlangt die Stiftung, der Bundestag solle per Gesetzesnovelle klarstellen, daß kein Richter, Betreuer oder Bevollmächtigter befugt ist, über Leben und Tod von PatientInnen zu entscheiden, die sich persönlich nicht äußern können. Zudem prüfe die Stiftung, ob sie ihrer Forderung per Verfassungsbeschwerde Nachdruck verleihen solle; ein Gutachten eines renommierten Verfassungsrechtlers sei bereits in Arbeit und werde im August veröffentlicht.

Hintergrund der Hospiz-Initiative ist der anhaltende Juristenstreit um die Auslegung des Paragraphen 1904 des Bürgerlichen Gesetzbuches, den der „Sterbehilfe“-Beschluß des Frankfurter Oberlandesgerichtes im Juli 1998 ausgelöst hatte. Das OLG hatte entschieden, daß bei einer Koma-Patientin die Ernährung per Magensonde abgebrochen werden dürfe, sofern die Betroffene mit der tödlichen Unterlassung „mutmaßlich“ einverstanden und ein entsprechender Antrag ihres Betreuers durch ein Vormundschaftsgericht genehmigt worden sei. Die beiden Vorinstanzen hatten diese neue Interpretation des Paragraphen 1904 BGB abgelehnt, weil sie aus dem Wortlaut des Paragraphen nicht herauszulesen ist. Gleichwohl begrüßte der Vorstand der Bundesärztekammer (BÄK) die OLG-Version, erklärte sie zum „Stand der Rechtsprechung“ und übernahm sie in seine „Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung“, die er im September 1998 trotz öffentlicher Proteste von Verbänden und PolitikerInnen beschloß.

Fünf Monate später, im Februar 1999, folgte dann ein neuer Sterbehilfe-Beschluß, den Hospizvertreter Brysch als „schallende Ohrfeige“ für die Frankfurter Richter und eine argumentative Katastrophe für die Bundesärztekammer wertet. Das Landgericht München wies die Beschwerde eines Betreuers zurück, der eine vormundschaftsgerichtliche Genehmigung dafür beantragt hatte, die Ernährung seines im Koma liegenden Vaters einzustellen.

Zur Begründung erläuterten die Münchner Richter, das Abbrechen der Ernährung sei eine „aktive Maßnahme mit dem Ziel des Todes des Betroffenen“, die nicht zum Aufgabenkreis des Betreuers gehöre. Zudem sei „unbestritten“, daß Paragraph 1904 BGB nach seinem Wortlaut nicht auf lebensbeendende ärztliche Maßnahmen anwendbar sei. Vielmehr betreffe er Heileingriffe, die lebensgefährlich sein könnten, etwa Operationen, Strahlentherapie oder die Vergabe von Medikamenten mit belastenden Nebenwirkungen.

Der Münchner Beschluß ist keineswegs eine kategorische Absage an das Verhungernlassen von Menschen, die sich nicht äußern können. Denn die Richter aus der bayerischen Metropole halten es für „sachgerecht“, daß Angehörige und ÄrztInnen tun dürfen sollen, was sie ihren RichterkollegInnen und BetreuerInnen strikt untersagen: „Über lebensbeendende Maßnahmen in eigener Verantwortung zu entscheiden.“ Falls die todbringende Unterlassung dem „mutmaßlichen Willen des Betroffenen“ entspreche, hätten Angehörige und ÄrztInnen strafrechtlich „in der Regel nichts zu befürchten“, behaupten die Münchner in ihrer Begründung.

„Das Konstrukt des mutmaßlichen Willens“, warnt dagegen Hospizvertreter Brysch, „birgt die Gefahr der Willkür!“ Tatsächlich steht der Begriff für Vermutungen Dritter darüber, ob und wie ein Kranker wohl behandelt werden wolle, der auf unbestimmte Zeit nicht in der Lage ist, sich zu äußern. Gewißheit, meint Brysch, könnten auch Patientenverfügungen nicht bringen, sie seien „oftmals nur formale Dokumente, die dem Einzelfall nicht gerecht werden“.

Trotz solcher Unsicherheiten gibt es kaum Anzeichen dafür, daß Parlament und Regierung ernsthaft gewillt sind, den Kurs zu korrigieren, den Gerichte und Bundesärztekammer seit Jahren eingeschlagen haben: die Ausweitung der Sterbehilfe auf Menschen, die überhaupt nicht im Sterben liegen. Zwar hatten im Sommer 1998 einige Bundestagsabgeordnete wie Monika Knoche (Grüne), Wolfgang Wodarg (SPD) und Hubert Hüppe (CDU) sowohl den Beschluß des Frankfurter OLG als auch die BÄK-Sterbebegleitungsrichtlinie scharf kritisiert. Auch ließ der frühere Justizminister Edzard Schmidt-Jortzig (FDP) im August 1998 auf Anfrage Hüppes erklären, der Frankfurter Sterbehilfe-Beschluß werfe „tiefgreifende juristisch-ethische Fragen“ auf, die einer „gründlichen Aufarbeitung bedürfen“. Doch bei der, wie Brysch findet, „verwirrenden Rechtslage bei existentiellen Fragen“ ist es geblieben – das heikle Thema wurde nach der Bundestagswahl in Bonn offiziell totgeschwiegen.

Im Juni dieses Jahres beschäftigte der Paragraph 1904 BGB dann kurzzeitig und ohne großes Aufsehen die Konferenz der JustizministerInnen in Baden-Baden. Thüringens Ressortchef Otto Kretschmer (SPD) hatte angeregt, „eine Gesetzesänderung in die Wege zu leiten, mit der klargestellt wird, daß der Paragraph 1904 BGB auf Fälle der passiven Sterbehilfe nicht entsprechend anwendbar ist“. Diese Idee fand in der Runde der JustizministerInnen aber keine Mehrheit; und ein Beschluß, ob und wie das Thema weiterverfolgt werden soll, wurde nicht gefaßt.

Dabei müßte Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) eigentlich ein offenes Ohr für die Bedenken von HospizlerInnen haben, die sich dagegen wenden, Sterbehilfe bei Koma- oder Demenz-PatientInnen zu dulden. Däubler-Gmelin hat für 1999 die Schirmherrschaft über die Deutsche Hospizhilfe übernommen – unter anderem mit der Begründung, daß die Hospizbewegung „Akzente setzt gegen den Trend, Menschen nur noch nach Nützlichkeitserwägungen zu bewerten“. Renate Wiedemann, Vorsitzende der Hospizhilfe, erhofft sich von der mächtigen „Schirmherrin“ nun politische Unterstützung: für den Ausbau von Hospizarbeit und Schmerztherapie – und dagegen, „daß das Lebensrecht der Schwachen in Gefahr gerät und Ärzte zum Töten von Menschen gezwungen werden“. Klaus-Peter Görlitzer