Der größte Reichtum liegt im Inneren

Wenn die verstörte afrikanische Mutter ihr Kind umbringen will, hilft dann die westliche Psychiatrie? Ärzte in Senegal praktizieren eine alternative Therapie, in der Gespräch und Offenheit heilen sollen  ■ Aus Dakar Julius
Effenberger

Sie sitzt auf dem Boden, lehnt den Rücken an die Person hinter ihr auf der Bank, ohne hinzuschauen. In einem Rechteck ist sie umgeben von zwei Dutzend Menschen, die ihr zuhören, sie anschauen, ihr Fragen stellen, ihre eigenen Wahrheiten und Überzeugungen dazu geben. Ausgelacht wird niemand, berechnend hinterfragt offenbar auch nicht, so daß die Worte allen einfach über die Lippen kommen.

Was die junge Frau zu sagen hat, ist Kollektiverleben, nur hat sie es selbst ausgetragen. Sie ärgert sich, wenn von Kindern die Rede ist, die angeblich ihre eigenen sind, denn dabei weiß sie mit der bestimmtesten Sicherheit, daß sie nie Kinder geboren hat. Die junge Frau ist aber eingeliefert worden, nachdem sie versucht hatte, ihr eigenes Kind zu erwürgen. Sie streitet es ab, sie könne es nicht glauben, das seien böse Zungen.

Im Gespräch auf der Terrasse kommt die Vorgeschichte der Frau zur Sprache: Sie war schon mal hier, nach einer Vergewaltigung. Als davon die Rede ist, weint sie – nicht mit Tränen, nicht mit den Augen oder der Miene, bloß ihre Stimme weint. Sie hatte sich gewehrt, aber der Angreifer gewann. Das war, als sie vor ihrer Tante, bei der sie lebte, geflohen war, um ihre Mutter zu besuchen. Deren neuer Mann kannte das Mädchen nicht, ließ es draußen warten, wurde betrunken und überfiel es dann. Auch der jetzige Ehemann ist nicht nett. Er beschimpft sie, das Geld wirft er ihr achtlos zu, auf den Boden. Die Mutter, die die Frau in die Klinik begleitet, vergießt stumm Tränen.

Mein Mann ist das Problem, sagt die Patientin, und daß die zwei Kinder bei ihr zu Hause nicht von ihr seien, sondern von der Schwägerin. Als man ihr eines der Kinder zum Stillen gab, stieß sie es weg: Das ist nicht mein Kind, sagte sie, und in der Brust habe ich keine Milch, sondern Blut.

In den Gesichtern der Umsitzenden strahlt etwas Helles, das Interesse und Miterleben anzeigt. Jede Woche finden hier diese Versammlungen statt, seit der frühere Chef des psychiatrischen Dienstes, Henri Collomb, sie Anfang der 60er Jahre eingeführt hatte. Die Aussprachen aller mit allen heißen Pentj, nach dem „Palaver-Baum“ der afrikanischen Dörfer. Geleitet wird die Sitzung von einem Patienten, der in der Mitte auf einem Teppich sitzt, das Wort erteilt und Fragen stellt. Die Sitzung dauert einige Stunden; manchmal wird sie mit Trommeln und Tanzen beendet.

Früher hatte der Pentj von Fann eine eigene Sendung im senegalesischen Radio, und es entstanden Theaterstücke daraus. Heute ist die Ruhmeszeit der Psychiatrie von Dakar vorbei. Den Niedergang bezeugen die Gebäude, deren Mauern mehr bröckeln als tragen. In den zwei Jahrzehnten unter Collombs Leitung, von 1959 bis 1978, war Fann ein Paradestück reformatorischer Psychiatrie mit weiter Ausstrahlung. Der psychiatrische Dienst des Universitätshospitals Fann verfügte über Sportplätze, einen Kinosaal, Gemüsegärten. An das heutige Elend gewöhnt sich der Besucher aber rasch, wenn er ins Hin und Her der Wortwechsel beim Pentj eintaucht und den Reichtum an Gefühlen, Gedanken, Mienen und Gesten wahrnimmt.

Jeder Patientenfall soll in der wöchentlichen Runde besprochen werden. Eine frisch eingelieferte Patientin unterbricht den Arzt, er solle nicht so laut reden, er habe schon recht, aber das sei kein Grund, die Stimme zu erheben. Manche Eingaben aus der Runde sind wie kleine Arien, und die Wortwechsel werden mitunter stechend und aggressiv, mitunter sind sie amüsant.

Inzwischen hat sich etwas abseits, in der Sonne, auf dem Boden, ein langer, dünner, alter Mann hingelegt, nachdem er sein Malmaterial deponiert hat. Er verfolgt die Unterhaltung mit geschlossenen Augen, kommt dann aber doch kurz dazu und gibt zum besten: „Was ihr redet, tönt kompliziert. Mir ist schwierig lieber als kompliziert. Ich, wenn es mir gut geht, da merke ich, daß es nicht gut geht, und ich gehe zum Arzt. Dies ist mein Beitrag für heute. Ich bin ein Gesellschaftsirrer.“ Und er geht sich wieder hinlegen. Seit 30 Jahren kommt Magatte Ndiaye jeden Tag, und er malt hier und versucht die Bilder an die Patientenbegleiter zu verkaufen.

Jede Abteilung des psychiatrischen Dienstes in Fann hält ihren Pentj an einem anderen Tag ab. Am Mittwoch ist die Frauenabteilung an der Reihe. Aber die Versammlung ist gleich durchmischt wie in der Männerabteilung am Freitag: Junge und Alte, Männer und Frauen. Das kommt daher, daß die Patienten nicht allein hospitalisiert werden. Henri Collomb hat die Institution des Begleiters eingeführt. Heute ist es selbstverständlich, daß ein Kranker von einem Angehörigen begleitet wird.

Denn ein kranker Geist ist für den Afrikaner nie von sich aus krank, sondern die Krankheit hat ihren Ursprung außerhalb seiner Person. Ein anderer Mensch, tot oder lebendig, fügt ihm das Unheil zu.

Samt der Krankheit ist der Patient verwurzelt in seiner Umgebung. Es ergäbe deshalb keinen Sinn, ihn allein zu behandeln. Auch gewährleistet die Gegenwart der Gesunden, daß die Kranken immer mit Normalität konfrontiert sind. Die Aufenthalte in Fann sind entsprechend kurz. Kaum jemand bleibt länger als einen Monat. Hingegen kehren dieselben Menschen immer wieder zurück.

Der heutige Chef des psychiatrischen Dienstes von Fann, Professor Momar Gueye, berichtet von den Problemen, die im Falle „moderner“ Familien mit der Begleitung auftreten. Wenn beide Eltern berufstätig sind und die Geschwister studieren oder im Ausland leben, kann die Begleitung nur durch Anstellung einer fremden Person gewährleistet werden. Das aber sei freilich nicht der ursprüngliche Zweck. Auch von seiten der Ärzte, die in Frankreich oder anderswo im Ausland studiert haben, findet laut Gueye eine Veränderung statt. Diese wollten die Diskussionen zu dirigistisch leiten, sie hätten die offenen Aussprachen nicht mehr im Blut.

Unter seiner Leitung, sagt Professor Gueye, komme es vor, daß Patienten die Erlaubnis erhalten, sich bei einem Heiler einer Ndöpp-Therapie zu unterziehen. An dieser Methode kann ein ganzes Dorf teilnehmen. Mit Zauberformeln, Koransprüchen und wechselnden Trommelrhythmen wird versucht herauszufinden, welcher unzufriedene Ahne im Kranken als nicht integrierter Teil von dessen Persönlichkeit wirkt. Der Heiler soll das Unheil sodann auf ein geopfertes Tier überleiten, das er symbolisch zusammen mit dem Kranken am Meeresstrand eingräbt. Denn der afrikanische Heiler hat primär die Aufgabe, dem Kranken einen Platz in der Gemeinschaft zu verschaffen. Zu diesem Zweck muß er einen Konsens der Gemeinschaft über den Ursprung und die Bedeutung des Leidens erzeugen.

Der Heiler Daouda Seck muß ein Greis sein, nach den Fotos zu schließen, die seine Wand schmücken: Auf den Bildern ist er in Begleitung lang vergangener Staatsleute. „Collomb? Ja, Collomb, das war ein sehr guter Weißer.“

Secks Blick ist bemerkenswert. Das eine Auge scheint krank, wie von einem Filterfilm überzogen und von der Sehrichtung abgelenkt. Erst wenn man woandershin schaut und auf ihn zurücksieht, sind seine Augen plötzlich scharf und wie verjüngt; sie waren im Besucher drinnen, ohne daß man es merkte.

Aber man müsse vorsichtig sein mit so etwas, sagt Professor Gueye. Denn die Heiler kosteten viel Geld, brächten die Menschen aber möglicherweise auf eine falsche Spur. Der Ndöpp gelte für viele Besucher als der Renner. Alle wollten das Ritual sehen. Das habe schon manchmal zur Entartung geführt: So seien namentlich schwarze US-Amerikaner angereist, und in den Dörfern habe man für sie Ndöpp-Theater aufgeführt, mit Trance vorspiegelnden Schauspielern. Umgekehrt sei eine Ndöpp-Gruppe in die USA gereist, um dort Kranke zu behandeln. Das ist aber das genaue Gegenteil dessen, was Henri Collomb in Senegal tat. Er suchte die Verwurzelung der Menschen in ihrer Kultur zu achten und in die Therapie einzubeziehen.

Ein Jahr nach seiner Rückkehr nach Frankreich erlag Henri Collomb in Nice 1979 einem kurzen Krebsleiden. Während seine Methoden in ganz Westafrika, wo heute viele seiner Studenten praktizieren, Schule machten, sind entsprechende Versuche in Europa bisher fruchtlos geblieben.