Schlagloch
: Das Weltgericht findet im Rechner statt

■ Von Klaus Kreimeier

„Nachgeschichte meint, daß das geschichtliche Bewußtsein durch ein kalkulatorisch-formales überholt wird, daß statt politischer Entscheidungen Dezimalkalkulationen getroffen werden.“ Vilém Flusser

Der letzte Sommer vor der Jahrtausendwende, die letzte Love Parade vor dem „millennium bug“: dem „Jahr-2000-Problem“, das im Internet auch als „Y2K-P“ gehandelt wird. Am Silvesterabend, so die schwarzen Propheten unserer Tage, werden zahllose PCs und computerisierte Betriebssysteme von 99 auf 00 umschalten und die Ziffern falsch interpretieren. Aber was heißt hier falsch?

Die Computer folgen der zwingenden Logik des Dezimalsystems, das sich nicht irren kann und auch die implantierten Denkfehler strikt befolgt. Nicht die Rechner, sondern unser laxes historisches Bewußtsein, unsere wacklige Kausallogik und unser vages lineares Denken werden sich selbst ein Schnippchen schlagen – und nicht wenige Experten befürchten, daß uns dabei buchstäblich Hören und Sehen vergehen wird.

Die neuen Rechenmaschinen, so meinte jedenfalls Flusser, sind darauf angelegt, Geschichte zu prozessieren – alternativ zu der Geschichte, die „passiert“. Vorerst jedoch scheint der Mensch nicht imstande, die von ihm erfundenen Maschinen im Sinne einer verbesserten, weil errechenbaren Geschichte zu handhaben und Politik durch Dezimalkalkulationen zu ersetzen.

Auch den Computer, die digitalen Techniken und das Internet bedienen wir nicht anders, als der Steinzeitmensch seine Werkzeuge bedient hat: im Kampf gegen die Natur und unter dem Druck einer Geschichte, die über uns hereinstürzt und auf die wir nur reagieren können.

Konkret: Wir verhalten uns so, als wären die neuen Techniken nur Modernisierungen des Telefons oder der Schreibmaschine. Damit stellt sich ein enormes Problem: Offensichtlich ist der postindustrielle Mensch in der Lage, Maschinen zu erfinden, deren Sinn er nicht versteht und die er nicht adäquat bedienen kann.

Die Datenverarbeitungsexperten werden nun selbst von der Datenverarbeitungslogik eingeholt. Sie versuchen zu begreifen, was sie angerichtet haben, aber schon Joseph Weizenbaum hat vor mehr als anderthalb Jahrzehnten bezweifelt, daß die hypertrophen Systeme, die tausendfach vernetzten, kreuz und quer geschalteten, ineinander verhakten und übereinander geschichteten Programme der computerisierten Kommunikationsnetze überhaupt zu verstehen seien. Flussers „Nachgeschichte“, schon bei ihm ein ambivalent schillernder Begriff, kippt ins Endzeitliche, wenn man sich die eingebaute Absurdität des Y2K-Problems bewußt macht. Gerade die Computer – aufgrund ihrer Unfehlbarkeit berufen, die von Menschen gemachte Geschichte durch Datengeneration, durch eine „prozessierte“ Geschichte zu ersetzen – drohen durchzudrehen, weil sie auf der Basis eines kurzsichtig programmierten Denkfehlers völlig korrekt funktionieren.

Kein Wunder, daß nun nicht wenige das Weltgericht von den Ziffern befürchten. „Wo deren korrekte immanente Logik gewissermaßen das ,Heil‘ im Machen von Geschichte ersetzt, erhält der unwillentlich oder nachlässig eingebaute Fehler in den Rechenoperationen ... tatsächlich die Qualität eines welthistorischen Kriteriums. Das ,Richten‘ findet im Inneren der Computer statt.“

So der Hamburger Kulturwissenschaftler Ludwig Fischer, der in seinem lesenswerten Essay „Die programmierte Apokalypse“ (zmm news, Uni Hamburg, Sommersemester 99) die Übersicht zu behalten versucht und auch darauf aufmerksam macht, daß nur der welthistorisch vorläufig siegreiche Westen, Erbe des römischen, von Papst Gregor reformierten Kalenders, das Problem mit der Eins und den Nullen hat. „Juden und Kopten, orthodoxe Christen und Araber, Chinesen und Tibeter und viele andere Kulturgemeinschaften zählen die Jahre oder definieren die Säkula völlig anders und haben am 31. Dezember 1999 nichts zu feiern. Dennoch sind sie gnadenlos mit der westlichen Zählung gesegnet“ – und daher auch mit dem Y2K-Problem.

Globalisierung zeigt sich hier in ihrer grimmigsten, schonungslosesten Effizienz: als Überschwemmung fremder, meist älterer Kulturen mit digitaler Technik und apparativer Logik, die nun, da sie sich mit sich selbst zu verheddern droht, möglicherweise nicht nur die Banken in Singapur, sondern auch den ahnungslosen Reisbauern auf Java in den Abgrund reißen könnte. Schon bevor er eingetreten ist, weist der „millennium bug“ auf ein zentrales Dilemma der globalisierten Welt. Wir leben mit einigen hundert Millionen Menschen zusammen, die strukturell daran gehindert werden, lesen zu lernen. Diese Menschen gehören nicht mehr einer präalphabetischen Kultur an – die vorzivilisatorischen Idyllen sind längst zerstört. Wir haben es vielmehr mit einer Gleichzeitigkeit von künstlichem Analphabetismus (als Produkt eines ökonomisch-politischen Gewaltverhältnisses) und postalphabetischer High-tech-Kultur zu tun. Meines Wissens gibt es kein Unesco-Programm, das auch nur im entferntesten diesem Problem Rechnung trüge.

Geht nun am ersten Tag des neuen Jahrtausends alles schief – oder wird noch einmal alles gut? Das Verteufelte ist: Wir wissen es nicht. Die Experten behaupten das eine wie das andere, und die eine wie die andere Annahme basiert, nicht anders als die widersprüchlichen Prognosen zur Erwärmung der Erdoberfläche, zur Gentechnik, zum Schicksal unserer Wälder und zur Endlagerung von Uran, auf derselben Systemlogik: auf den Rechenoperationen des technisch-naturwissenschaftlichen Weltbildes, dessen Macken wir gerade zu fürchten lernen.

Weder der These noch ihrer Antithese können wir über den Weg trauen. Die „strukturelle Analogie von optimistischer, mit wissenschaftlichen Annahmen legitimierter und auf Alltagserfahrung verweisender Zukunftsdeutung einerseits und pessimistischem, ebenso auf wissenschaftliche Befunde bzw. Interpretationen und auf Alltagswahrnehmung rekurrierendem Endzeit-Wissen andererseits wäre zu bedenken, jenseits aller wohlfeilen Polemik über realitätsfremde Katastrophenängste oder aufgeklärte Ahnungslosigkeiten“ (Ludwig Fischer).

Seit mehr als einem Jahr jedenfalls ist das Y2K-Problem ein Dauerhit in der öffentlichen Diskussion, dem nicht nur die Gurus der Software-Industrie und besorgte Regierungschefs wie Tony Blair, sondern auch religiöse Fanatiker und apokalyptisch gestimmte Bußprediger auf die Beine geholfen haben: Menetekel einer unbeherrschbaren Situation, die wir schon im Vorgriff auf das Ereignis, ob es nun eintreten wird oder nicht, als Thrill konsumieren wie die alten Mythen von der Vergeblichkeit allen menschlichen Strebens und vom Verderben, das der Hybris droht – wie die Geschichte vom Turmbau zu Babel und Goethes Ballade vom Zauberlehrling.

Der „millennium bug“ eröffnet eine ungemütliche Perspektive, die der passive Held der Dienstleistungsgesellschaft, der Endverbraucher, vermutlich überleben wird. Aber die bange Erwartung, mit der er auf das bedrohliche Datum starrt, zeigt auch, daß er sich in der neuen, der digitalen Kultur noch nicht einquartiert hat.

Offensichtlich erfinden wir Maschinen, deren Sinn wir nicht verstehenDer mögliche Computercrash zu Silvester zeigt den Abgrund der digitalen Kultur