„Dich alten Sack will doch keiner verhaften“

■  Gestern pellte sich Eierwerfer Kunzelmann aus dem Ei und klopfte im Morgengrauen selbst an die Gefängnistore der Justizvollzugsanstalt Tegel

0.55 Uhr herrschte absolute Stille auf der Bühne. Der Vorhang ging auf, und wie im Programm angekündigt, stand da ein Ei. Ein mit Zeitungen beklebtes Riesenei. Nach einigen Sekunden bahnte sich eine Säge den Weg durch die Pappmachéschale nach draußen. „Komm raus, du Vogel!“, rief einer. „Normalerweile platzen deine Eier besser!“, ein anderer. Beharrlich vergrößerte die Säge die Öffnung. Als eine Hand mit einer Taschenlampe erschien, stimmten einige im Publikum „Happy Birthday“ an.

In der ersten Stunde seines 60. Lebensjahres entstieg er dann wie Phönix aus der Asche: Der vor über einem Jahr untergetauchte und wegen zwei Eierwürfen auf Berlins Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) per Haftbefehl gesuchte Dieter Kunzelmann. Als sich Hunderte von Augenpaaren ehemaliger Wegbegleiter und treuer Freunde auf ihn richteten, die im Mehringhoftheater in Kreuzberg über eine Stunde auf seinen Auftritt gewartet hatten und mit ihm feiern wollten, brachte er keinen Ton heraus. Doch die Sprache verschlagen hatte ihm lediglich die Trockenheit im Ei. Als ihm endlich jemand eine Flasche Wasser reichte, sagte er: „In wenigen Stunden ist das Eierkapitel für mich abgeschlossen.“

Der weitere Verlauf des Abends mußte ihn an Auftritte zu seinen Glanzzeiten als Politprovokateur in den 60er und 70er Jahren erinnert haben. Doch im Vergleich zu damals gefiel ihm die Unruhe im Publikum gar nicht. Trotzig blieb er bei dem angekündigten Programmpunkt „Eierstory“ und las aus dem Kapitel „Ich dachte immer nur an das Eine: Märkische Landeier“ aus seinem Buch „Leisten Sie keinen Widerstand“. Obwohl die Beschreibungen der Eier-attacken durchaus lustig sind, hörte kaum jemand richtig zu. „Du alter Sack, dich will doch keiner verhaften“, rief einer. „Jetzt gibst du erst mal einen aus“, forderte ein anderer immer wieder. Irgendwann fand das Kunzelmann nicht mehr lustig. „Das ist ja schlimmer als in einer Schulklasse“, schimpfte er. „Naja, die Zeiten haben sich geändert“, konterte ihm jemand. Doch Kunzelmann wäre nicht Kunzelmann, wenn er sich beirren ließe. „Ich trete die Strafe an, um mich wieder als freier Bürger bewegen zu können“, verkündete er.

Es waren an diesem Abend auch Verfechter der revolutionären Kraft von Eiweiß und Dotter da, die der „Personenkult“ um Kunzelmann störte. Und auch ein 36jähriger Linksradikaler, der auf dem grünen Sonderparteitag zwei Eier in Richtung Außenminister Fischer warf. „Ich habe Fischer geeiert, um die Gesellschaft zu verändern“, sagte er. Im Gegensatz zu Kunzelmann, der ihm zu eitel sei, sei er mehr auf „Inhalt und Vermittlung“ bedacht.

Von wenig Eitelkeit zeugte jedoch die Tatsache, daß Kunzelmann in den frühen Morgenstunden in Begleitung einiger Dutzend Gesinnungsgenossen und ohne Fahrschein per U-Bahn zur Justizvollzugsanstalt Tegel fuhr. Dort schlug er mit den Fäusten an das Tor und schrie: „Ich will hier rein.“ Die Anstaltsleitung, die auf sein mögliches Auftauchen vorbereitet war, gewährte ihm Einlaß in die „Einweisungsabteilung“. Ob er seine Strafe aber dort absitzen muß, war gestern ebenso unklar wie die Frage, ob er die gesamten elf Monate weggeschlossen wird. Vor hat er das jedenfalls. Denn außer die „Haftbedingungen zu inspizieren“, will er den Jahrtausendwechsel hinter Gittern verbringen. Am Eingangstor ließ er einen Karton mit sechs Eiern zurück. B. Bollwahn de Paez Casanova

Es waren auch Verfechter der revolutionären Kraft von Eiweiß und Dotter da, die der Kult um Kunzelmann störte