Kleine-Jungs-Streiche

■ Der Dirigent und Aktionist Christian von Borries und seine Reihe „Musikmißbrauch“

Schon zehnmal gab es den „Musikmißbrauch“: Die passende Feier dazu: ein Wunschkonzert! Allerdings das letzte, denn das Publikum durfte sich, passend zum Jubiläum der etwas anderen Musikreihe, Lieder wünschen, die in diesem Jahrtausend noch einmal und dann nie wieder zu hören sein sollen. Entsprechend gab's ein Sammelsurium der Geschmacklosigkeiten, in denen weder „die drei Tenöre“ fehlten noch das Deutschlandlied oder Schlagerkoryphäen wie Rex Gildo oder Rammstein.

Höhepunkt des Wunschkonzerts: die kleine Schwester, die am Flügel „Für Elise“ spielte. Ein junger Mann wollte nie mehr von ihr damit traktiert werden. Nachdem der Conferencier Hanns Zischler sie nach langer Darbietung dann doch verabschiedete, kam auch die ältere Schwester, um „Für Elise“ zu spielen. Sie wurde vom Publikum, das jeder Einspielung die rote Karte zeigen konnte, jäh gestoppt. Kapellmeister und Kopf der Musikmißbrauchsreihe – Christian von Borries – ließ sein Kleinorchester danach einen Tusch geben. Gerade als es anfing, wirklich langweilig zu werden, wurde das Ganze abgebrochen, die beiden „Lieblings-DJs“ der Veranstalter – Rashad Becker und Traveller – hüllten das Restpublikum in raumfüllenden Ambient. Christian von Borries – Dirigent, Flötist, Aktionist – bringt die Welt der klassischen Musik ein wenig aus dem Gleichgewicht.

Mit Charme und Hang zu subversiver Dramatik führt er vor, was Klassik sein kann, aber in der Regel nicht sein darf. Spaß steht dabei vor Perfektion. Der schlaksige Enddreißiger, der sich nach Konzerten gern wie ein kleiner Junge, dem wieder ein Streich gelungen ist, verbeugt, will E-Musik nicht von den gegenwärtigen Hörgewohnheiten getrennt wissen. In keiner anderen Kunstsparte werde das Gütesiegel so gerne für das Ewiggestrige vergeben. Bloß kein Risiko. Angefangen beim Heben des Taktstocks, aufgehört beim „Pscht-pscht“ des Publikums. Bei „Musikmißbrauch“ in den Sophiensälen ist dagegen das Ungehörige erlaubt, und es kommt an.

„Ich gehe zu den Berliner Symphonikern“, so Borries, „und sage: Ich habe ein Problem, und Sie haben eins. Sie haben ein Publikum, das in der Regel älter als 50 ist, und ich habe ein Orchester, aber keine Musiker.“ Dann bietet Borries seine Visionen und Ideen an, die die klassische Musik ins neue Jahrtausend holen wollen, und die Musiker kommen. Bisher konzipierte Borries Konzerte, in denen Beethoven ohne Tatatatam auskommt, dafür aber mit Chinakrachern untermalt wird, in denen Film- und Tondokumente ebenso mit einbezogen sind wie das Husten und Gähnen der Zuschauer. Konzerte, wo Mozart neben Disco steht. Ein musikalischer Salon des 19. Jahrhunderts gemischt mit Club-Feeling.

Er organisiert Veranstaltungen mit Musik dieses Jahrhunderts, die noch nie gehört wurde, oder solche mit Instrumenten desselben: Fabriksirenen, Maschinengewehre, Nebelhörner, aber auch ein Theremin. Im Herbst ist Bach dran. Christian von Borries scheut sich nicht, sich an nichts zu halten. Das Publikum dankt und arbeitet bereits intensiv an einem neuen Status für ihn: „Kult“.

Waltraud Schwab

Die Musikmißbrauchsreihe führt vor, was Klassik sein kann, in der Regel aber nicht sein darf