Der auf den Fassaden grast

Sergej Alexander Dott ist Künstler, aber eine Staffelei allein genügt ihm schon lange nicht mehr. In Berlin verewigt er sich nun am liebsten an Hauswänden  ■ Von Annette Rollmann

Über viele Dinge, die in Berlin geschehen, wird behauptet, sie können nur hier passieren. Dazu trägt auch Sergej Alexander Dott bei. Er schafft Fassadenkunst, die nach lang durchtanzten Nächten den Szenegängern in Prenzlauer Berg das Gefühl gibt, in der richtigen Stadt zu leben. Und den Massen aus Bottrop und Passau in klimatisierten Touristenbussen Worte des Staunens abringt: „Ne, gucke mal. Das gibt es nur in Berlin.“

Die „Kuhuunst“, zum Beispiel. Seit Mitte Juni hängen in der Kollwitzstraße 18 sechs Kühe an der Fassade. Dreidimensional, in Neonorange und Pink stehen sie grasend auf einer Margeritenwiese. „Aus so einem Motiv will ich mir ein Kleid nähen“, sagt ein Mädchen in Raverhose, die locker um die Hüften liegt. „Cool.“

Der 39jährige Dott, auf dessen Jeans sich wie ein Klischee die Überreste von Farbe finden, ist mit seiner Kuhwiese nicht nur auf der Straße zu sehen, sie ist auch von der Straße finanziert. Der quirlige Mann mit den dünnen strubbeligen Haaren druckte Kuhaktien und gab sie an Freunde und Fremde für 270 Mark pro Stück aus. „Da haben Leute quer durch alle Milieus des Prenzlauer Bergs mitgemacht.“ Er erzählt von einer alleinstehenden Mutter mit drei Kindern, „die sich das vom Mund abgespart hat, weil sie es wollte“, und einem anderen, der „das Geld nur mal so eben hingelegt hat“.

Dott arbeitet vor allem mit Licht. „Licht macht alles sichtbar, ohne selbst sichtbar zu sein“, sagt der Künstler, der, bedingt durch seine komplizierten Installationen, eine kleine Schule der verschiedenen Gewerke hinter sich gebracht hat. Mittlerweile kann er aufwendige elektrische Konstruktionen bauen, schweißen und wie ein Statiker Berechnungen anstellen. „Die Kühe waren nicht leicht an die Wand zu bringen“, erzählt „der Handwerker“.

Auch wenn unter dem Bild Sätze hängen wie „Die in Senkrecht gebrachte Kuhweide thematisiert die Künstlichkeit und die Entfremdung von den Kräften der Natur im städtischen Alltag“, ist die Wiese vor allem eins: schön, sentimental. Dott nennt es emotional.

„Das intellektuelle Gegenstück hängt am Ende der Straße“, behauptet er und deutet die Achse der langen Kollwitzstraße hoch, wo sie auf die Danziger Straße trifft. Auf der gegenüberliegenden Seite sieht man in Neonbuchstaben „Die Adern leuchten“. Vor einem Haus, dessen einstiger Anstrich durch die Auspuffgase in schmutziges Grau getaucht ist, liest man Fragmente wie, „jedenfalls eine veränderung und wieder eine veränderung“, oder Beunruhigendes wie: „Deine Eltern haben versehentlich deine Nachgeburt großgezogen.“ Sätze, freigegeben zur Interpretation. Es sind Anregungen, Gedankenschnipsel. Dott steht vor dem Hause, froh, daß die Illumination nach einer Reparatur und durch das Sponsoring des Energieversorgers Baden-Württemberg wieder leuchtet: „Die Fassade des Hauses ist wie eine Haut. Dahinter findet ganz viel Unterschiedliches gleichzeitig statt.“

Ein Mann mit Bierbauch und im Unterhemd öffnet die Tür im oberen Stockwerk, die schon lange nicht mehr gestrichen worden ist. „Tag. Wat wolln Sie? Wat ick davon halte? Nischt. Dit kann ick ich Ihnen sagen. Absolut sinnlose Sprüche. Und allein die Art, wie dit alles verarbeitet worden ist. Einfach Rohre am Balkon zu befestigen. Für die Kinder is dit zu hell, dit leuchtet ins Zimmer. Dit ist eben ne Künstler. Ick bin Filialleiter.“ Dann fällt die Tür des Filialleiters wieder zu.

Ein Stockwerk tiefer wird ebenfalls geöffnet. Zaghaft. Eine jüngere Frau erscheint. Im Hintergrund Spielzeug auf Flocatiteppich. „Nee, ich verstehe die Sprüche nicht. Aber ich interessier' mich auch nicht dafür. Mir ist das egal.“ Die Tür fällt ins Schloß. Zurück auf die Danziger Straße. Dort, über der Kollwitz-Buchhandlung, steht in Leuchtschrift „Bücher sind Lebensmittel“. Inhaber Olaf Schwarz findet, daß Dott einfach tolle Sachen macht: „Daß es noch so Verrückte gibt, die sich fast selbst finanziell ruinieren für ein Projekt!“

„Eigentlich bin ich eine arme Sau“, sagt Sergej Dott und strahlt, als hätte er gerade eine Million im Lotto gewonnen. Zwar gewinnt der Künstler zunehmend an Popularität, aber Häuserfassaden lassen sich schlecht an Wohnzimmerwände zu teuren Sitzgruppen hängen. Und so bleibt dem Künstler nichts anderes übrig, als einzelne kleine Teile der Fassade zu Geld zu machen oder eben etwas anderes zu schaffen: Das kann man in seinem Atelier in der Anklamer Straße besichtigen.

Dort hängt Lida Iwanowna an der Wand. Die 85jährige mit langem weißem Haar hält evagleich einen knackigen roten Apfel in einer Hand. Ihr Busen verheißt die Versuchung, die nun geht, der Wickelrock um ihre dürren Hüften wiederum mutet in seinem Stil an den eines jungen Mädchens an. „Sie und die anderen. Das ist der Grund, warum ich immer nach St. Petersburg fahre. Dort habe ich das Glück gefunden.“ Damit meint Dott keine junge Geliebte. Denn in Berlin-Weißensee wohnt er zusammen mit seiner Frau und seinem siebenjährigen Sohn.

Er meint die Mentalität, wie die Menschen im heute armen, aber noch von den Musen beseelten St. Petersburg miteinander umgehen. „Lida sagt immer: Je mehr Spaß es macht, um so besser“, erzählt Dott und streckt dabei einmal den Rükken durch und vollzieht dabei die gedrechselten Handbewegungen der 85jährigen nach, die ihre Sätze offenbar mit ausladender Geste kapriziös vorträgt. Sie war mal Schauspielerin, sagt Dott. Doch erst nach dem Tod ihres Mannes, einem hohen Offizier, entfloh sie mit 55 Jahren dem Milieu.

Dotts Bindung zu Rußland ist durch die Vorfahren geprägt. Die Großeltern mußten, da der Großvater deutschstämmig war, samt Kindern 1938 nach Deutschland zwangsemigrieren: „Mein Onkel wurde in Deutschland gleich erschossen. Er wollte linke Zellen bilden und der Revolution eigentlich zum Sieg verhelfen“, erzählt der Künstler. „Aber das ist ja das Widersprüchliche am stalinistischen System, daß sie solche Leute rausgeschmissen haben.“ Zusammen mit fünf Geschwistern ist er in Karlshorst aufgewachsen. Geld hatten sie nicht. „Aber das spielte in der DDR ja auch nicht so eine große Rolle. Wir haben die riesige Etage in der Villa einfach zugewiesen bekommen“, erinnert er sich an seine Kindheit.

Auf den von Papier und kleinen Figuren übersäten Tisch im Atelier legt er Fotografien. Ein Foto zeigt einen sakralen Saal mit dünnen Opferstockkerzen, das andere Bild einen Raum mit Fischen. Und natürlich gibt es zu beiden Installationen Geschichten aus dem wahren Leben. „Als Kind habe ich immer mit den Kindern vom Verwalter der angrenzenden russisch-orthodoxen Kirche gespielt. Eigentlich kann man sagen, ich bin in der Kirche aufgewachsen.“

Und die andere Geschichte geht so: „Mein Vater, von Beruf ebenfalls Künstler, war nebenbei passionierter Angler. Die Fische wurden bei uns in der Badewanne aufbewahrt. Natürlich wurden die richtig gepflegt, bis sie aufgegessen wurden. Wir ließen immer Frischwasser ein.“ Zu den Hühnern der Großmutter, die diese im Keller hielt, und zu den sieben Bienenvölkern auf dem Balkon sowie zum Bussard im Flur hat er noch keine Installationen gemacht. Zu den Kühen in der Kollwitzstraße hat er wiederum keine Geschichte. Aber das muß er nicht. Da reicht auch die Phantasie aus.