Es droht eine Verhärtung der Fronten

■  Interview mit dem Aktivisten der iranischen Protestbewegung, Sagid Dschavad. Er gehörte zu einem Studentenkomitee, das 1979 an der Besetzung der US-Botschaft beteiligt war. Heute steht er dem Kreis um die verbotene Zeitung „Salam“ nahe

taz: Haben die gewaltsamen Proteste der Politik der Präsidenten Chatami geschadet?

Sagid Dschavad: Zunächst möchte ich sagen, daß die Gewalt nicht von den Studenten ausging; dafür sind die Hisbollah und die Polizei verantwortlich. Wir haben uns nur gewehrt. Die Proteste sind insofern auch gegen Chatami gerichtet, als daß er unter Druck gesetzt werden muß. Unsere Demonstrationen sind ein Protest gegen gegen seine Passivität. Seine Passivität besteht darin, daß er sich nur in Krisensituationen zu Wort meldet, um uns zu beruhigen und auf unsere Forderungen mit angeblicher Machtlosigkeit reagiert.

Sind die Proteste auch als eine Fortsetzung der Machtkämpfe innerhalb der Regierung zu sehen?

Diese Analyse ist falsch. Es geht nicht um einen Flügelkampf: Viele der studentischen Parolen beziehen sich auf beide Regierungslager, sowohl das der Konservativen als auch das Chatamis.

Wie schätzen Sie Chatami ein: Will oder kann er den Reformkurs nicht durchsetzen?

Vielleicht ist er willens. Es gibt aber Mitglieder seines Kabinetts, die Reformen strikt ablehnen. Mit diesen Leuten ist es unmöglich, die Demokratisierung des Iran anzustreben. Wäre Chatami konsequent, würde er einen Kabinettswechsel vornehmen. Anderersseits ist er natürlich gezwungen, das gesellschaftliche Gleichgewicht zu bewahren. Aber irgendwann wird er diese Balance nicht mehr halten können: Es zeichnet sich eine Verhärtung der Fronten ab, zwischen denen es bald keinen Spielraum mehr geben wird.

Welche konkreten Forderungen stellen Sie an Chatami?

Er muß die Inhalte der Verfassung durchsetzen. In seiner Funktion als Staatspräsident ist er letztendlich dafür verantwortlich, daß humane und zivile Rechte gewährt werden. Er soll verhindern, daß Oppositionelle, Intellektuelle, Schriftsteller, Studenten verhaftet oder sogar ermordet werden. Wir fordern von ihm, Gewalttätigkeit gegen Demonstrierende zu unterbinden. Wir erwarten von ihm ein klares Wort, eine eindeutige Position und darüber hinaus die Umsetzung seiner Reformabsichten in die politische Praxis. Wir haben die Hoffnung auf ihn noch nicht aufgegeben. Die Erfahrung hat gezeigt, daß unsere Forderungen irgendwann erfüllt werden müssen.Chatami muß selbst entscheiden, ob er diese Bewegung mittragen möchte.

Sie gehörten zu den treuen Anhängern Chomeinis. Stellen Ihre Demokratieforderungen nicht eine Abkehr von Chomeini und eine Hinwendung zum westlichen Gesellschaftsmodell dar?

Chomeini hat sich nie gegen Demokratie ausgesprochen. Selbstverständlich kam es in den zurückliegenden 20 Jahren zu tiefgreifenden Veränderungen, die damalige Situation war eine andere. Unser Wandel vollzog sich von einer Utopie hin zu Realitätsnähe. Realitätsnähe bedeutet für uns das, was Chatami als den „Dialog der Kulturen“ bezeichnet hat. Wir haben in den letzten 20 Jahren Erfahrungen gesammelt; viele unserer Vorstellungen stellten sich als nicht realisierbar heraus. Unsere Forderungen nach Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit sind allerdings nicht neu; im Gegenteil: Sie waren ja die Grundlage der iranischen Revolution.

Dürfen Ihren Demokratievorstellungen zufolge sich auch Frauen ohne Schleier auf der Straße zeigen?

Unsere Probleme liegen tiefer als diese Forderungen. Was das Tragen des Schleiers angeht, so ist dies eine sehr persönliche Angelegenheit. Dieser Aspekt wurde schon immer von den radikalreligiösen Kräften instrumentalisiert. Jede Frau soll selbst entscheiden, ob sie den Schleier tragen möchte oder nicht. Im übrigen tragen viele Frauen im Iran traditionell den Schleier. Zugespitzt formuliert: Wir treten für eine Demokratie ein, in der Frauen, die den Schleier tragen möchten, dies auch tun dürfen. Interview: Thomas Dreger