Dürer, Baader-Meinhof und ich

Nach 1945 folgte die deutsche Kunst den internationalen Trends: Im Westen herrschte das Primat der Abstraktion, im Osten der sozialistische Realismus. Erst Künstler wie Georg Baselitz, Sigmar Polke oder Joseph Beuys befreiten sich vom ästhetischen Blockdenken. Ist Kunst heute noch – oder wieder – tauglich für nationale Etiketten? Teil XXVI der Serie „50 Jahre neues Deutschland“  ■ Von Harald Fricke

Der Rekord hielt 58 Jahre. Mit über fünf Millionen Besuchern war der verhüllte Reichstag von Jeanne Claude und Christo im Sommer 1995 die erste deutsche Ausstellung, die ein größeres Publikum anzog als 1937 „Entartete Kunst“. Damals waren an die 2,5 Millionen Menschen gekommen, um in München und weiteren Stationen zu sehen, was der Minister für Propaganda, Joseph Goebbels, als undeutsch, psychisch krank und wehrkraftzersetzend ausgewählt hatte. Die Mammutschau mit Hunderten von Exponaten sollte der Bevölkerung als abschreckendes Beispiel dienen, von dem sich das Ideal nationalsozialistischer Kunst um so glanzvoller abheben konnte.

Die Fotos dieses kulturellen Großereignisses wirken heute seltsam. Die Menschenmassen, die sich in Sonntagskleidern an den expressionistischen Bildern Kirchners oder Noldes und Skulpturen von Lehmbruck vorbeischieben; der Empfang zur Vernissage mit Goebbels und allerlei Politprominenz aus der NSDAP – im Grunde konterkariert die, wenn auch erzwungene Popularität der Ausstellung das Anliegen der Nazis. Erst durch die Präsentation in München wurden der Hannoveraner Schokoladenfabrikant Bernhard Sprengel und seine Frau Margrit zu begeisterten Nolde-Sammlern. Umgekehrt tauchte zur documenta I in Kassel 1955 kein Kunstwerk aus der Nazizeit auf, weil gezeigt werden sollte, daß in Deutschland zwischen 1933 und 1945 „trotz größter Förderung und Auftragserteilung nicht ein einziges erinnerungswürdiges Werk entstanden ist“, wie Werner Haftmann in der Einleitung zum Katalog schrieb.

Die Frage nach 50 Jahren Kunst in der Bundesrepublik läßt sich als Abriß deutscher Kunst nicht beantworten. Nationale Zugehörigkeit ist lange schon kein ästhetisches Kriterium mehr. Gleichwohl existiert in der Kunst eine Auseinandersetzung mit eben dieser nationalen Zuschreibung, wenn etwa „young British art“ als Erfolgsmodell der neunziger Jahre mit dem boomenden „Cool Britannia“ eines Tony Blair einhergeht – und doch bloß eine Londoner Künstlerclique im Umfeld des Galeristen Jay Jopling und seines Sammlers Charles Saatchi meint. Entsprechend könnte man vermutlich den Begriff der deutschen Kunst auf die ökonomischen Interessen einiger Kölner und mittlerweile auch Berliner Kunsthändler runterkochen. So hat nach fünfzig Jahren jeder eine Nische: Für Fotografie schaut man auf die Becher-Schule, Feminismus findet bei Katharina Sieverding, Rebecca Horn oder Rosemarie Trockel statt, für politische Kunst sind Klaus Staeck oder Hans Haacke zuständig.

Für die erste Nachkriegsgeneration lagen die Probleme anders. Aus dem Dritten Reich waren Künstler entweder nach Frankreich oder in die USA emigriert, in Deutschland blieb nur der Weg ins innere Exil. Während dieser Zeit entstand in New York allerdings ein sich mehr und mehr internationalisierender Kunstmarkt, auf dem Pablo Picasso ebenso Spitzenpreise erzielte wie Henri Matisse oder später die abstrakten Expressionisten. Als Leo Castelli 1950 in New York eine Ausstellung mit zehn „jungen Malern aus Frankreich und USA“ einrichtete, war die Leistungsschau mit je fünf Künstlern aus beiden Ländern durchaus strategisch gedacht: Namen wie Rothko, Pollock oder De Kooning sind danach stärker im Gedächtnis haften geblieben als Lanskoy oder De Stael.

Zeitgenössische Kunst bekamen die Deutschen zunächst vor allem in den Reedukationsprogrammen der Alliierten zu sehen. Gleich nach dem Krieg wurde am „Collecting Point“ in München amerikanische Kunst gezeigt, man organisierte Ausstellungen wie „Französische Malerei, vom Impressionismus bis zur Gegenwart“ 1946 in Mainz. Der eigene Wiederaufbau fand unterdessen an den Kunsthochschulen von München und Berlin statt, wo Karl Hofer schon 1945 zum neuen Rektor gewählt wurde. In Hofers düster gehaltenen „Totentanz“-Bildern oder bei Otto Dix spiegelte sich das Grauen von Faschismus und Krieg wieder; zugleich setzten die Maler jedoch Traditionen des Realismus fort, die fast bruchlos an ästhetische Debatten aus der Weimarer Republik anknüpften. Mit US-Avantgarde, französischem Surrealismus, mit Farbexperimenten oder den Wortspielen eines Marcel Duchamp hatte das alles wenig zu tun. Erst mit der documenta setzte sich „Abstraktion als Weltsprache“ 1955 in Kassel durch. Und prompt wurde die Amerikanisierung der europäischen Kunst beklagt. Walter Sedlmayer schrieb vom „Verlust der Mitte“ und der konservative Philosoph Arnold Gehlen griff die „reine Rhetorik“ an, durch die zeitgenössische Kunst bloß noch im Kommentar verständlich würde.

Kaum in Museen und internationale Ausstellungen zurückgekehrt, befand sich Kunst in Deutschland schon wieder in einer Krise. Einerseits wollte man kulturelle Weltoffenheit zeigen, auf der anderen Seite schienen in diesem Rahmen mittlerweile Verbindlichkeiten vorzuherrschen, die für eine spezifisch deutsche Herangehensweise oder Handschrift keinen Platz ließen. Einen deutschen Sonderweg sollte es nicht geben: Die DDR bekannte sich zum sozialistischen Realismus sowjetischer Prägung, im Westen übernahm man die Abstraktion nach amerikanischem Vorbild. Noch 1966 wurde die Bundesrepublik in Venedig zur Biennale von Horst Antes mit seinen „Kopffüßler“-Bildern vertreten, 1968 waren es die gemalten Traumszenen Richard Oelzes und die figürlichen Radierungen des galligen Horst Janssen.

Der Bruch mit dem ästhetischen Blockdenken kam überraschend – und war doch wieder das Ergebnis der Politik. Schon Mitte der 50er Jahre hatten Künstler die DDR verlassen, weil sie ihre Arbeit nicht der Glorifizierung von Arbeitern, Bauern und NVA-Helden widmen wollten. Georg Baselitz war 1957 als Student an die Berliner HdK gewechselt, Gerhard Richter kam 1961 nach Düsseldorf, als er abstrakte Malerei „entdeckte“. Einmal im Westen, saß Richter plötzlich zwischen allen Stühlen: Von der Dresdner Kunstakademie streng am Abbild der Wirklichkeit geschult, fand er sich mitten in der Pop Art wieder. Statt Werktätigenporträts gab's Bilder mit dem Logo von Pepsi-Cola. Richter wich vor beiden Ideologien zurück und organisierte 1963 mit Konrad Lueg und Sigmar Polke in einem Möbelhaus seine „Demonstration für den kapitalistischen Realismus“. Wie andere Waren auch wurde Kunst als Konsumartikel in Szene gesetzt, verdoppelt und ironisiert: Polke malte Ikonen des Wirtschaftswunders von Socken und Schokolade bis zur deutschen Wurst auf muffige Wolldecken, Richter übertrug Fundfotos in verschwommene Schwarzweißbilder. Daß darunter auch Aufnahmen von Stukas, Altnazis und „Onkel Rudi“ von der SS waren, machte Richter zu einem der ersten Künstler, die in den 60er Jahren auf die deutsche Vergangenheit reagierten. Zwar arbeitete sich auch Wolf Vostell mit seinen Happenings und Installationen am Holocaust ab, doch bei Richter kehrte die Geschichte nicht in pathetischen Gesten als Exorzismus wieder, sondern kalt und dokumentarisch. 1988 nahm Richter sich den deutschen Herbst vor und malte seinen RAF-Zyklus: nicht aus Wut oder Trauer, sondern aus Mitleid für die Opfer – auf beiden Seiten.

Vor allem war es aber ein anderer Künstler, dessen Werk den Umgang der Deutschen mit dem NS-Erbe nicht nur thematisierte, sondern immer wieder auch Therapien für die Nation anbot: Joseph Beuys. Seine Biographie ist bekannt: 1943 wird der 22jährige Beuys als Funker mit seinem Kampfbomber über der Krim abgeschossen, danach angeblich von Tartaren gepflegt, die ihn in Filz einhüllen und mit Hasenfleisch und Fett aufpeppeln. Später gerät er in britische Gefangenschaft und kehrt 1945 in seinen Heimatort Kleve zurück. In den 50er Jahren – vorher hat er Bildhauerei studiert – durchlebt Beuys schwere Depressionen, die aus Erinnerungen an den Krieg resultieren. 1961 wird er Professor der Düsseldorfer Kunstakademie.

Statt es bei der Lehre zu belassen, tritt Beuys öffentlich auf. Er agiert mit autobiographischen Materialien, fegt nach einer Demo zum 1. Mai in Berlin die Straße oder kündigt 1972 an: „Dürer, ich führe persönlich Baader + Meinhof durch die Dokumenta V“. Nachdem er 1969 Studenten dazu aufruft, die Kunsthochschule zu besetzen, wird er aus dem öffentlichen Dienst entlassen. 1971 gründet er die „Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“ und schließt sich Ende der 70er Jahre den Grünen an. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben wird so zum gesellschaftlichen Gradmesser der Bundesrepublik, in der jeder ein Künstler sein kann, der sich diesem Prozeß stellt. Der erweiterte Kunstbegriff ist die Umsetzung von Demokratie mit ästhetischen Mitteln.

Von Beuys lernen, heißt allerdings auch lernen, daß „Kunst = Kapital“ ist. Nachdem in den frühen 80er Jahren eine vom Punk bewegte Szene um Martin Kippenberger und Albert Oehlen gegen die SPD-Illusionen des toleranten Wohlfahrtsstaats anmalte, nachdem aus Hausbesetzern „geniale Dilletanten“ wurden, die Alltag und Performance ineinander auflösten, sind Ende der 90er Jahre die Claims abgesteckt. Der Berliner Martin-Gropius-Bau bot 1997 sauber ausdifferenzierte „Deutschlandbilder“ zwischen Ost und West; in Weimar streitet man darüber, ob die DDR-Vergangenheit Staatskünstlern oder Dissidenten gehört; der Nachwendepop aus Klubszene und Infotainment hat sich in wohldosierte Vielheiten verflüchtigt, die unter dem Label „Children of Berlin“ demnächst nach New York exportiert werden. Bonn zieht in Berlin ein, und Gerhard Richter grüßt mit Schwarzrotgoldmalerei aus dem neuen Bundestag, die Antje Vollmer für „Scharlatanerie“ hält. Im September wird schließlich die neue Hauptstadt ihr Resümee zur deutschen Kunst ziehen: Nicht aus 50 Jahren, sondern gleich für das ganze „XX. Jahrhundert“. Das klingt mal wieder schwer rekordverdächtig.

Harald Fricke, 35, ist Kulturredakteur der taz